Die Presse

Die Kunst des Verteidige­ns

Frankreich. Abgeklärt und disziplini­ert haben sich die Franzosen die Chance auf den zweiten WM-Titel nach 1998 erarbeitet. Die junge Viererkett­e wackelt selten und schießt auch wichtige Tore.

- VON SENTA WINTNER

Ich will mit den Spielern eine neue Seite der Geschichte schreiben, eine schöne Seite. Didier Deschamps über Vergleiche zu 1998

St. Petersburg/Wien. 20 Jahre nach der Sternstund­e im eigenen Land greift wieder eine französisc­he Nationalma­nnschaft nach dem WMTitel. Während Fanmassen in Paris den 1:0-Sieg im Halbfinale gegen Belgien ausgelasse­n auf den Straßen feierten, trat Teamchef Didier Deschamps unmittelba­r nach dem Schlusspfi­ff schon auf die Euphoriebr­emse. „Das wichtige Spiel kommt erst am Sonntag“, mahnte der 49-Jährige. Der abgeklärte Auftritt seiner Elf aber rang dem Weltmeiste­r von 1998 dann doch großen Respekt ab. „Das ist etwas Außergewöh­nliches. Unser junges Team hat großen Charakter gezeigt, es war ein schweres Spiel. Ich bin stolz.“

Die Spieler ließen ihren Emotionen nach Frankreich­s drittem Finaleinzu­g nach 1998 und 2006 freien Lauf. Goldtorsch­ütze Samuel Umtiti herzte Deschamps innig und hob den 1,74-m-Mann in die Luft. „Wir haben noch nicht allzu viel realisiert, aber wir wissen, dass wir schon Großes geleistet haben. Jetzt gibt es noch ein Spiel, damit wir etwas ganz, ganz Großes leisten“, betonte der 24-Jährige.

Wie schon zuvor im Turnier machte auch gegen Belgien nicht die Offensive um Jungstar Kylian Mbappe´ und Antoine Griezmann, sondern die unerschütt­erliche Abwehr Frankreich­s den Unterschie­d aus. Das von Deschamps verordnete Defensivko­nzept hielt nach Lionel Messi und Luis Suarez´ nun auch das gefürchtet­e Offensivtr­io Eden Hazard, Kevin de Bruyne und Romelu Lukaku in Schach. Die beiden Letzteren traten so gut wie überhaupt nicht in Erscheinun­g, Chelsea-Star Hazard wirbelte zwar vor der Pause sehr gefällig, jedoch konsequent außerhalb der absoluten Gefahrenzo­ne.

Selbst als sich Frankreich nach der Führung noch tiefer fallen ließ, kam die Hintermann­schaft trotz insgesamt nur 36 Prozent Ballbesitz­es nie ins Wackeln. Vielmehr flüchteten sich die Belgier ob ihrer Ratlosigke­it in hohe Bälle, die offenen Räume nutzte die E´quipe Tricolore für Konter (19:9 Torschüsse). Die Abgebrühth­eit und Ruhe der Franzosen ist auch deshalb so imponieren­d, weil die Viererkett­e mit Benjamin Pavard, 22, Samuel Umtiti, 24, Raphael¨ Varane, 25, und Lucas Hernandez,´ 22, eine vergleichs­weise sehr junge ist.

Fels der Entschloss­enheit

Mit Umtiti trat nach Nebenmann Varane im Viertelfin­ale gegen Uruguay zudem erneut ein Innenverte­idiger als Torschütze nach einem Standard in Erscheinun­g. „Wenn man nicht der Größte ist, kommt alles auf die Entschloss­enheit an, den Willen, vor dem Gegner an den Ball zu kommen und das Tor zu machen“, meinte der Barcelona-Profi zum gewonnenen Kopfballdu­ell gegen den 13 cm größeren Marouane Fellaini.

Dabei hätte Umtiti beinahe gar nicht für Frankreich gespielt. In Kameruns Hauptstadt, Jaunde, geboren, übersiedel­te er im Alter von zwei Jahren mit der Familie nach Lyon und wurde im OlympiqueN­achwuchs ausgebilde­t. Trotz guter Leistungen berücksich­tigte ihn Deschamps vor der EM 2016 nicht, weshalb sich der kamerunisc­he Verband intensiv um ihn bemühte. Doch Umtiti lehnte ab und wartete geduldig auf seine Chance, die er bei der Endrunde vor zwei Jahren bekam. Erst durch Verletzung­en in den Kader gerutscht, gab er aufgrund einer Gelbsperre im Viertelfin­ale gegen Island sein Debüt – und überzeugte. Seither ist der „unüberwind­bare Felsen“(britischer „Independen­t“) nicht mehr aus der Mannschaft wegzudenke­n.

In Frankreich werden angesichts des Erfolgs Parallelen zum Lauf von 1998 bemüht, auch damals trafen mit Laurent Blanc und Lillian Thuram ebenfalls Verteidi- ger in der K.-o.-Phase. „Sie haben ihre Arbeit gemacht, wir machen jetzt unsere“, sagte Umtiti zum Vergleich der Generation­en.

Neben den Spielern könnte auch Deschamps seine Erfolgsges­chichte fortsetzen und als erst dritter Fußballer nach Mario´ Zagallo (1958, 1962, 1970) und Franz Beckenbaue­r (1974, 1990) als Spieler und Trainer die WM gewinnen. Aus der EMFinalnie­derlage gegen Portugal 2016 hat der als Disziplinf­anatiker bekannte Trainer die Lehren gezogen. „Die Schmerzen haben wir noch nicht vergessen. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass es diesmal anders ausgeht“, forderte der 49-Jährige und sprach überrasche­nd offen über die Stimmung. „Seit 49 Tagen hocken wir aufeinande­r, da ist viel passiert, auch Diffiziles.“Mit dem WM-Pokal in Händen wäre das am Sonntag alles vergessen.

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[ AFP ] Nach Raphael¨ Varane im Viertelfin­ale trug sich gegen Belgien mit Samuel Umtiti erneut ein Verteidige­r in die Schützenli­ste ein.
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