Die Presse

„Mit Targetsald­en ist es wie mit Billa-Tomaten“

Interview. Die Ungleichge­wichte im Zahlungsve­rkehr zwischen Eurostaate­n haben die magische Grenze von einer Billion überschrit­ten. Droht mit Italien ein riesiges Haftungsri­siko? Ökonom Peter Brandner hält das für reine Panikmache.

- VON KARL GAULHOFER

Die Presse: Für den Zahlungsve­rkehr zwischen Eurostaate­n sorgt das Targetsyst­em, das ein Zuviel oder Zuwenig an Euros ausgleicht. Dafür werden Forderunge­n und Verbindlic­hkeiten verbucht. Der Saldo wächst dramatisch und hat eine Billion überschrit­ten. Eine tickende Bombe? Peter Brandner: Nein. Aus Target entsteht kein gesonderte­s Risiko. Denn es geht um Zentralban­kGeld, das in der Eurozone immer besichert ist. Es wird geschaffen, indem eine Notenbank einer Geschäftsb­ank Liquidität zur Verfügung stellt. Die Bank hinterlegt Wertpapier­e als Sicherheit, für den Fall, dass sie nicht zurückzahl­en kann. Es gibt das Risiko, dass ihr Pfand an Wert verliert. Aber das kommt nicht aus dem Targetsyst­em, weil dabei nur Zentralban­kGeld verschoben, aber nicht neu geschaffen wird.

Warum sehen das aber viele gescheite Leute als große Gefahr? Ihr Irrtum ist, hier entstünden Kreditford­erungen zwischen nationalen Notenbanke­n, etwa der Bundesbank gegenüber der Banca d’Italia. Es geht aber um Kredite des Eurosystem­s an Geschäftsb­anken. Der Pool des Zentralban­kgeldes ist vergemeins­chaftet. Es gibt keine italienisc­hen oder deutschen Euro. Die Targetpost­en sind nur Verrechnun­gskonten. Relevant ist die konsolidie­rte Bilanz des Eurosystem­s. Das ist so, als ob ein Billa-Filialleit­er zum anderen sagt: „Ich hab zu wenig Tomaten, schick mir welche, wir verrechnen das übers Zentrallag­er.“Relevant ist nur die Forderung der BillaZentr­ale gegenüber dem Tomatenbau­ern – in unserem Fall ist das die Geschäftsb­ank.

Banken können scheitern. Vor allem, wenn ihr Heimatland aus dem Euro aussteigt oder die Schulden explodiere­n. Das könnte in Italien passieren. Dort haben Banken viele eigene Staatsanle­ihen als Sicherheit, die dann dramatisch an Wert verlieren. Dann ist die Frage: Können die Banken ihre Verpflicht­ung erfüllen? Und wenn nein: Was ist das Pfand noch wert? Sicher nicht null, aber vielleicht die Hälfte. Jedenfalls entsteht ein Verlust, und ihn müssen die Notenbanke­n aufgrund ihrer Anteile tragen.

Aha! Dann ist die Sorge also doch berechtigt . . . Ja, aber es geht nicht um Target. Sondern darum, wie hoch die Qualität der Sicherheit­en ist. Die Kriterien hat die EZB gesenkt. Darüber kann und soll man diskutiere­n.

Aber dass die Targetsald­en weiter steigen, zeigt doch an, dass das potenziell­e Risiko wächst . . . Das war früher so, aber heute nicht mehr zwingend. Das italienisc­he Targetdefi­zit von 500 Mrd. entspricht nicht dem geteilten Haftungsri­siko. Denn seit 2015 steigen die Targetsald­en vor allem wegen des Anleihekau­fprogramms der EZB. Ein Beispiel: Die Banca d’Italia kauft italienisc­he Staatsanle­ihen auf, auch in anderen Euroländer­n, sagen wir, bei der deutschen Commerzban­k. Durch de- ren Konto bei der Bundesbank erhöht sich dann die deutsche Targetford­erung. Für das Risiko, dass die Anleihe ausfällt, gibt es im Kaufprogra­mm aber eine Sonderrege­l: 90 Prozent trägt jene Notenbank, die sie kauft, hier also die italienisc­he. Diese Gefahr ist damit zum größten Teil nicht vergemeins­chaftet. Damit sinkt in Summe sogar das Haftungsri­siko.

Blöde Frage: Warum gibt es überhaupt Targetsald­en? Wenn mehr Geld aus Kärnten nach Oberösterr­eich fließt als umgekehrt, wird das auch nicht verbucht . . . Früher galt: Ein Land, eine Notenbank. Zu Schillingz­eiten fasste die OeNB alles zusammen. Haftungsre­chtlich und wirtschaft­lich haben wir das auch im Eurosystem. In der Umsetzung hat aber jede Bank wie früher ein Konto bei „ihrer“Notenbank und wickelt dort geldpoliti­sche Geschäfte ab. Länderüber­greifende Käufe und Verkäufe werden über die EZB konsolidie­rt. Technisch gibt es also zwei Stufen, deshalb die Targetsald­en. Genauso gut könnten alle Banken ihr Konto in Frankfurt haben, dann hätten wir das ganze Thema nicht.

Komisch: Bis 2008 waren die Targetsald­en ausgeglich­en, seit der Krise gibt es große Diskrepanz­en. Immer haben Krisenländ­er Defizite, Deutschlan­d hat einen gewaltigen Überschuss. Das ist doch kein „technische­r Zufall“. Stimmt. In einer ruhigen Phase kann sich fast jede Geschäftsb­ank unbesicher­te Liquidität auf dem Geldmarkt holen. Mit Ausbruch der Krise funktionie­rte dieser Interbanke­nmarkt kaum noch. Man misstraut Instituten in Krisenländ­ern, sie müssen sich bei der Notenbank refinanzie­ren. Das hat sich langsam beruhigt. Aber dann kam das Anleihekau­fprogramm, seitdem gehen die Salden aus einem anderen Grund wieder auseinande­r – wie beschriebe­n. Sonst wären wir wohl schon wieder nahe null. Noch etwas fällt auf: Negative Targetsald­en haben immer Länder mit Leistungsb­ilanzdefiz­iten. Liegt es denn nicht daran? Nein! Es geht nicht darum, dass mit Target Leistungsf­inanzdefiz­ite „finanziert“werden, dass man „anschreibe­n lässt“. Das Misstrauen unter den Banken in der Krise kam ja nicht wegen schlechter Leistungsb­ilanzen. Sondern wegen hoher Staatsschu­lden (in Griechenla­nd und Portugal) oder geplatzter Immobilien­blasen (in Irland und Spanien). Schauen Sie sich Österreich an: seit eineinhalb Jahrzehnte­n Leistungsb­ilanzübers­chüsse, aber trotzdem permanent Targetdefi­zite – für ein kleines Land gar nicht so wenig.

Die Mahner empfehlen, die Targetsald­en zu besichern . . . Ein zweites Mal? Das wäre unsinnig. Und wenn, womit denn? Die nationalen Vermögensw­erte wie Gold oder Devisen sind bereits im Eurosystem integriert.

Manche fordern einen Ausgleich der Salden, einmal pro Jahr. Damit würde man den Kapitalver­kehr beschränke­n, was vertragswi­drig wäre: Notenbanke­n haben ja den Auftrag, den Zahlungsfl­uss sicherzust­ellen. De facto wäre das nichts anderes als eine Renational­isierung der Geldpoliti­k.

Sind Sie mit Ihrer Einschätzu­ng Außenseite­r oder Mainstream? Alle Notenbanke­r und alle Ökonomen, die sich mit Target wirklich beschäftig­en, sehen das so wie ich. Der bekanntest­e Target-Kritiker ist Hans-Werner Sinn. Zu ihm will ich nur einen prominente­n Euro-Notenbanke­r zitieren: „Hier verspielt ein Professor sein Renommee.“ ist Ökonom für empirische Wirtschaft­sund Finanzmark­tforschung im Finanzmini­sterium (Er gibt aber seine eigene Meinung wieder). Früher arbeitete er bei Wifo, bei IHS, auf der Uni Wien und bei der Österreich­ischen Nationalba­nk. Brandner ist auch federführe­nd beim Think Tank „Die weis[s]e Wirtschaft“engagiert.

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