„Mit Targetsalden ist es wie mit Billa-Tomaten“
Interview. Die Ungleichgewichte im Zahlungsverkehr zwischen Eurostaaten haben die magische Grenze von einer Billion überschritten. Droht mit Italien ein riesiges Haftungsrisiko? Ökonom Peter Brandner hält das für reine Panikmache.
Die Presse: Für den Zahlungsverkehr zwischen Eurostaaten sorgt das Targetsystem, das ein Zuviel oder Zuwenig an Euros ausgleicht. Dafür werden Forderungen und Verbindlichkeiten verbucht. Der Saldo wächst dramatisch und hat eine Billion überschritten. Eine tickende Bombe? Peter Brandner: Nein. Aus Target entsteht kein gesondertes Risiko. Denn es geht um ZentralbankGeld, das in der Eurozone immer besichert ist. Es wird geschaffen, indem eine Notenbank einer Geschäftsbank Liquidität zur Verfügung stellt. Die Bank hinterlegt Wertpapiere als Sicherheit, für den Fall, dass sie nicht zurückzahlen kann. Es gibt das Risiko, dass ihr Pfand an Wert verliert. Aber das kommt nicht aus dem Targetsystem, weil dabei nur ZentralbankGeld verschoben, aber nicht neu geschaffen wird.
Warum sehen das aber viele gescheite Leute als große Gefahr? Ihr Irrtum ist, hier entstünden Kreditforderungen zwischen nationalen Notenbanken, etwa der Bundesbank gegenüber der Banca d’Italia. Es geht aber um Kredite des Eurosystems an Geschäftsbanken. Der Pool des Zentralbankgeldes ist vergemeinschaftet. Es gibt keine italienischen oder deutschen Euro. Die Targetposten sind nur Verrechnungskonten. Relevant ist die konsolidierte Bilanz des Eurosystems. Das ist so, als ob ein Billa-Filialleiter zum anderen sagt: „Ich hab zu wenig Tomaten, schick mir welche, wir verrechnen das übers Zentrallager.“Relevant ist nur die Forderung der BillaZentrale gegenüber dem Tomatenbauern – in unserem Fall ist das die Geschäftsbank.
Banken können scheitern. Vor allem, wenn ihr Heimatland aus dem Euro aussteigt oder die Schulden explodieren. Das könnte in Italien passieren. Dort haben Banken viele eigene Staatsanleihen als Sicherheit, die dann dramatisch an Wert verlieren. Dann ist die Frage: Können die Banken ihre Verpflichtung erfüllen? Und wenn nein: Was ist das Pfand noch wert? Sicher nicht null, aber vielleicht die Hälfte. Jedenfalls entsteht ein Verlust, und ihn müssen die Notenbanken aufgrund ihrer Anteile tragen.
Aha! Dann ist die Sorge also doch berechtigt . . . Ja, aber es geht nicht um Target. Sondern darum, wie hoch die Qualität der Sicherheiten ist. Die Kriterien hat die EZB gesenkt. Darüber kann und soll man diskutieren.
Aber dass die Targetsalden weiter steigen, zeigt doch an, dass das potenzielle Risiko wächst . . . Das war früher so, aber heute nicht mehr zwingend. Das italienische Targetdefizit von 500 Mrd. entspricht nicht dem geteilten Haftungsrisiko. Denn seit 2015 steigen die Targetsalden vor allem wegen des Anleihekaufprogramms der EZB. Ein Beispiel: Die Banca d’Italia kauft italienische Staatsanleihen auf, auch in anderen Euroländern, sagen wir, bei der deutschen Commerzbank. Durch de- ren Konto bei der Bundesbank erhöht sich dann die deutsche Targetforderung. Für das Risiko, dass die Anleihe ausfällt, gibt es im Kaufprogramm aber eine Sonderregel: 90 Prozent trägt jene Notenbank, die sie kauft, hier also die italienische. Diese Gefahr ist damit zum größten Teil nicht vergemeinschaftet. Damit sinkt in Summe sogar das Haftungsrisiko.
Blöde Frage: Warum gibt es überhaupt Targetsalden? Wenn mehr Geld aus Kärnten nach Oberösterreich fließt als umgekehrt, wird das auch nicht verbucht . . . Früher galt: Ein Land, eine Notenbank. Zu Schillingzeiten fasste die OeNB alles zusammen. Haftungsrechtlich und wirtschaftlich haben wir das auch im Eurosystem. In der Umsetzung hat aber jede Bank wie früher ein Konto bei „ihrer“Notenbank und wickelt dort geldpolitische Geschäfte ab. Länderübergreifende Käufe und Verkäufe werden über die EZB konsolidiert. Technisch gibt es also zwei Stufen, deshalb die Targetsalden. Genauso gut könnten alle Banken ihr Konto in Frankfurt haben, dann hätten wir das ganze Thema nicht.
Komisch: Bis 2008 waren die Targetsalden ausgeglichen, seit der Krise gibt es große Diskrepanzen. Immer haben Krisenländer Defizite, Deutschland hat einen gewaltigen Überschuss. Das ist doch kein „technischer Zufall“. Stimmt. In einer ruhigen Phase kann sich fast jede Geschäftsbank unbesicherte Liquidität auf dem Geldmarkt holen. Mit Ausbruch der Krise funktionierte dieser Interbankenmarkt kaum noch. Man misstraut Instituten in Krisenländern, sie müssen sich bei der Notenbank refinanzieren. Das hat sich langsam beruhigt. Aber dann kam das Anleihekaufprogramm, seitdem gehen die Salden aus einem anderen Grund wieder auseinander – wie beschrieben. Sonst wären wir wohl schon wieder nahe null. Noch etwas fällt auf: Negative Targetsalden haben immer Länder mit Leistungsbilanzdefiziten. Liegt es denn nicht daran? Nein! Es geht nicht darum, dass mit Target Leistungsfinanzdefizite „finanziert“werden, dass man „anschreiben lässt“. Das Misstrauen unter den Banken in der Krise kam ja nicht wegen schlechter Leistungsbilanzen. Sondern wegen hoher Staatsschulden (in Griechenland und Portugal) oder geplatzter Immobilienblasen (in Irland und Spanien). Schauen Sie sich Österreich an: seit eineinhalb Jahrzehnten Leistungsbilanzüberschüsse, aber trotzdem permanent Targetdefizite – für ein kleines Land gar nicht so wenig.
Die Mahner empfehlen, die Targetsalden zu besichern . . . Ein zweites Mal? Das wäre unsinnig. Und wenn, womit denn? Die nationalen Vermögenswerte wie Gold oder Devisen sind bereits im Eurosystem integriert.
Manche fordern einen Ausgleich der Salden, einmal pro Jahr. Damit würde man den Kapitalverkehr beschränken, was vertragswidrig wäre: Notenbanken haben ja den Auftrag, den Zahlungsfluss sicherzustellen. De facto wäre das nichts anderes als eine Renationalisierung der Geldpolitik.
Sind Sie mit Ihrer Einschätzung Außenseiter oder Mainstream? Alle Notenbanker und alle Ökonomen, die sich mit Target wirklich beschäftigen, sehen das so wie ich. Der bekannteste Target-Kritiker ist Hans-Werner Sinn. Zu ihm will ich nur einen prominenten Euro-Notenbanker zitieren: „Hier verspielt ein Professor sein Renommee.“ ist Ökonom für empirische Wirtschaftsund Finanzmarktforschung im Finanzministerium (Er gibt aber seine eigene Meinung wieder). Früher arbeitete er bei Wifo, bei IHS, auf der Uni Wien und bei der Österreichischen Nationalbank. Brandner ist auch federführend beim Think Tank „Die weis[s]e Wirtschaft“engagiert.