Warum Europa weiter US-Soldaten braucht
Die nach wie vor in Deutschland stationierten 35.000 amerikanischen Militärs sind ein Garant dafür, dass der nukleare Schutzschirm der USA intakt bleibt und die Abschreckung gegen einen Aggressor funktioniert.
Wie der dieswöchige NatoGipfel erneut unterstrichen hat, ist es die dezidierte Politik von US-Präsident Donald Trump, die Europäer zu höheren Verteidigungsausgaben zu bewegen. Das ist nichts Ungewöhnliches. Seit Dwight D. Eisenhower in 1950er-Jahren, versuchte noch jeder US-Präsident, die europäischen Nato-Alliierten dazu zu bringen, mehr Geld in ihre Streitkräfte zu stecken.
Zuletzt tat das auch Barack Obama, dessen Verteidigungsminister Robert Gates 2011 der Nato eine „dunkle Zukunft“prophezeite, sollten die Europäer ihre Verteidigungsausgaben nicht auf die vereinbarte Zwei-Prozent-Marke des Bruttoinlandsprodukts anheben.
Seit Jahrzehnten werden die europäischen Nato-Mitglieder sowie die EU-Staaten, Österreich inklusive, in Washington als sicherheitspolitische Trittbrettfahrer abgekanzelt. Da stimmt in vielerlei Hinsicht. Kein einziger europäischer Staat wäre zurzeit fähig, langfristig sein Territorium ohne US-Unterstützung gegen eine Militärmacht wie Russland zu verteidigen.
Obwohl die USA insgeheim wiederholt drohten, ihr Engagement in Europa zu reduzieren, sollten die Europäer nicht selbst mehr für ihre Verteidigung tun, glaubten nur wenige europäische Politiker daran, dass die Amerikaner jemals ihre Truppen vom alten Kontinent abziehen würden.
Unter Trump, der die Nato als „überflüssig“bezeichnet hat, könnte sich das nun ändern. „Die Länder, dir wir verteidigen, müssen dafür bezahlen. Tun sie das nicht, müssen die USA bereit sein, diese Länder sich selbst verteidigen zu lassen“, meinte er schon zu Beginn seiner Amtszeit.
Laut US-Medien hat Trump eine Studie in Auftrag gegeben, um den Abzug eines Großteils der rund 35.000 in Deutschland stationierten US-Soldaten oder die Verlegung des gesamten oder eines Teils des Kontingents nach Polen zu prüfen. Im Kreis seiner Berater hat Trump sich angeblich mehrfach für den Abzug aller US-Truppen aus Europa starkgemacht.
Für Europa, inklusive für das Nicht-Nato-Mitglied Österreich, wäre ein US-Abzug ein sicherheitspolitisches Unglück. Ein solcher Abzug würde unter anderem die Glaubwürdigkeit des atomaren Schutzschirms der USA – die Beistandsverpflichtung, im Falle eines Atomangriffs auf europäische Nato-Staaten nukleare Vergeltungsschläge gegen einen Aggressor durchzuführen – schwächen.
Ist die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung durch die USA einmal verloren, könnten Aggressoren – allen voran Russland – verstärkt auf nukleare Erpressung setzen, um nationale Interessen durchzusetzen. Dies hätte auch negative Folgen für Österreich.
Die 35.000 US-Soldaten in Deutschland sind das Zünglein an der Waage, was die Glaubwürdigkeit der amerikanischen nuklearen Abschreckung betrifft. Die paradoxe Logik dahinter: Nukleare Abschreckung kann nur funktionieren, also ein Atomkrieg nur verhindert werden, wenn man dem Gegner glaubwürdig signalisiert, dass man im Ernstfall Kernwaffen einsetzen würde. Die Frage war und ist jedoch nach wie vor, ob Washington im Fall der Fälle wirklich bereit wäre, das Leben amerikanischer Zivilisten für die Verteidigung Europas gegen Russland zu riskieren. Zumal Moskau über genügend Kernwaffen verfügt (eine sogenannte Zweitschlagkapazität), um im Kriegsfall Hunderte Ziele in den USA zu zerstören. Europäische Politiker zweifelten daher immer wieder an der Bündnistreue der USA.
Aus diesem Grund – und um eine sogenannte „Abkoppelung“innerhalb des Bündnisses zwischen Amerikanern und Europäern zu verhindern – wurden während des Kalten Krieges Tausende von US-Soldaten in Europa stationiert. Einerseits dienten die USTruppen zur militärischen Verstärkung der Nato-Verbündeten. Ihre eigentliche Aufgabe aber war politischer Natur: Sie fungierten als eine Art Stolperdraht.
Wären zu Beginn eines militärischen Konflikts US-Soldaten gefallen, hätte dies den Bündnisfall ausgelöst. Kein US-Präsident, aufgepeitscht durch die öffentliche Meinung, könnte den Tod amerikanischer Soldaten ungesühnt lassen, so die Theorie. Dieses blutige Kalkül aber stärkte die Glaubwürdigkeit, dass die USA in einem Konflikt in Europa eingreifen würden. Laut Abschreckungstheorie reduzierte eben dies die Chancen auf den Ausbruch eines Krieges zwischen Ost und West erheblich.
Die Untermauerung amerikanischer Glaubwürdigkeit und Bündnistreue ist nach wie vor die eigentliche Hauptaufgabe der 35.000 US-Soldaten in Deutschland. Natürlich würden zu diesem Zweck heute einige Hundert oder ein paar Tausend amerikanische Soldaten auch genügen. Ein unüberlegter und abrupter Abzug aber könnte Russland signalisieren, dass die (* 1982) forscht beim New Yorker Thinktank EastWest Institute zu internationalen Konflikten sowie Sicherheitstechnologien und ist als Politikberater tätig. Er ist auch Senior Editor des außenund sicherheitspolitischen Magazins „The Diplomat.“Gady publiziert in diversen weiteren Fachzeitschriften zu geopolitischen Themen. USA ihren nuklearen schirm de facto aufgeben.
Russland, das gerade sein gesamtes nukleares Waffenarsenal modernisiert, könnte versuchen, Europa unter Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen, durch nukleare Erpressung also, Bedingungen zu diktieren, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Zum Beispiel: die Einrichtung von Pufferstaaten zwischen der Nato und dem russischen Territorium inklusive einer Entmilitarisierung des Baltikums.
Letztendlich wäre aber ganz Europa auf jeder wirtschaftlichen und politischen Ebene leichter von Moskau erpressbar. Gewiss würde das auch die Möglichkeit eines Atomkriegs erheblich steigern. Schutz-
Ist diese Darstellung überzeichnet? Vielleicht. Doch sieht die russische Militärdoktrin von 2013 den möglichen Einsatz von Kernwaffen nicht erst bei einem feindlichen Atomschlag vor, sondern schon in einem konventionellen Krieg. Die Arsenale der europäischen Atommächte – Frankreich und Großbritannien – sind einfach zu schwach, um abschreckend auf Russland zu wirken, das konsequent das Ziel verfolgt, die Nato und die EU zu zerschlagen.
Deutschland würde wohl oder übel eigene Kernwaffen entwickeln müssen, sollte es an einer von Moskau unabhängigen Politik festhalten wollen. Natürlich, derzeit sind deutsche Massenvernichtungswaffen undenkbar. Der Abzug der US-Truppen und der Abbau des nuklearen Schutzschirms der USA würde aber eine neue, gefährlichere Ära für Europa einleiten und bedeuten, dass Länder wie Deutschland früher oder später aus ihren sicherheitspolitischen Kokons schlüpfen müssten.
Wie immer man auch dazu moralisch steht: Die amerikanische nukleare Abschreckung, abgesichert durch US-Truppen in Deutschland, hat in den vergangenen 70 Jahren zum Frieden in Europa beigetragen. Sollte sie verloren gehen, wäre dies ein sicherheitspolitisches Erdbeben für Europa. Dem entgegenzuwirken, muss eine der Hauptaufgaben einer klugen europäischen Sicherheitspolitik sein.