Die Presse

Warum Europa weiter US-Soldaten braucht

Die nach wie vor in Deutschlan­d stationier­ten 35.000 amerikanis­chen Militärs sind ein Garant dafür, dass der nukleare Schutzschi­rm der USA intakt bleibt und die Abschrecku­ng gegen einen Aggressor funktionie­rt.

- VON FRANZ-STEFAN GADY E-Mails an: debatte@diepresse.com

Wie der dieswöchig­e NatoGipfel erneut unterstric­hen hat, ist es die dezidierte Politik von US-Präsident Donald Trump, die Europäer zu höheren Verteidigu­ngsausgabe­n zu bewegen. Das ist nichts Ungewöhnli­ches. Seit Dwight D. Eisenhower in 1950er-Jahren, versuchte noch jeder US-Präsident, die europäisch­en Nato-Alliierten dazu zu bringen, mehr Geld in ihre Streitkräf­te zu stecken.

Zuletzt tat das auch Barack Obama, dessen Verteidigu­ngsministe­r Robert Gates 2011 der Nato eine „dunkle Zukunft“prophezeit­e, sollten die Europäer ihre Verteidigu­ngsausgabe­n nicht auf die vereinbart­e Zwei-Prozent-Marke des Bruttoinla­ndsprodukt­s anheben.

Seit Jahrzehnte­n werden die europäisch­en Nato-Mitglieder sowie die EU-Staaten, Österreich inklusive, in Washington als sicherheit­spolitisch­e Trittbrett­fahrer abgekanzel­t. Da stimmt in vielerlei Hinsicht. Kein einziger europäisch­er Staat wäre zurzeit fähig, langfristi­g sein Territoriu­m ohne US-Unterstütz­ung gegen eine Militärmac­ht wie Russland zu verteidige­n.

Obwohl die USA insgeheim wiederholt drohten, ihr Engagement in Europa zu reduzieren, sollten die Europäer nicht selbst mehr für ihre Verteidigu­ng tun, glaubten nur wenige europäisch­e Politiker daran, dass die Amerikaner jemals ihre Truppen vom alten Kontinent abziehen würden.

Unter Trump, der die Nato als „überflüssi­g“bezeichnet hat, könnte sich das nun ändern. „Die Länder, dir wir verteidige­n, müssen dafür bezahlen. Tun sie das nicht, müssen die USA bereit sein, diese Länder sich selbst verteidige­n zu lassen“, meinte er schon zu Beginn seiner Amtszeit.

Laut US-Medien hat Trump eine Studie in Auftrag gegeben, um den Abzug eines Großteils der rund 35.000 in Deutschlan­d stationier­ten US-Soldaten oder die Verlegung des gesamten oder eines Teils des Kontingent­s nach Polen zu prüfen. Im Kreis seiner Berater hat Trump sich angeblich mehrfach für den Abzug aller US-Truppen aus Europa starkgemac­ht.

Für Europa, inklusive für das Nicht-Nato-Mitglied Österreich, wäre ein US-Abzug ein sicherheit­spolitisch­es Unglück. Ein solcher Abzug würde unter anderem die Glaubwürdi­gkeit des atomaren Schutzschi­rms der USA – die Beistandsv­erpflichtu­ng, im Falle eines Atomangrif­fs auf europäisch­e Nato-Staaten nukleare Vergeltung­sschläge gegen einen Aggressor durchzufüh­ren – schwächen.

Ist die Glaubwürdi­gkeit der nuklearen Abschrecku­ng durch die USA einmal verloren, könnten Aggressore­n – allen voran Russland – verstärkt auf nukleare Erpressung setzen, um nationale Interessen durchzuset­zen. Dies hätte auch negative Folgen für Österreich.

Die 35.000 US-Soldaten in Deutschlan­d sind das Zünglein an der Waage, was die Glaubwürdi­gkeit der amerikanis­chen nuklearen Abschrecku­ng betrifft. Die paradoxe Logik dahinter: Nukleare Abschrecku­ng kann nur funktionie­ren, also ein Atomkrieg nur verhindert werden, wenn man dem Gegner glaubwürdi­g signalisie­rt, dass man im Ernstfall Kernwaffen einsetzen würde. Die Frage war und ist jedoch nach wie vor, ob Washington im Fall der Fälle wirklich bereit wäre, das Leben amerikanis­cher Zivilisten für die Verteidigu­ng Europas gegen Russland zu riskieren. Zumal Moskau über genügend Kernwaffen verfügt (eine sogenannte Zweitschla­gkapazität), um im Kriegsfall Hunderte Ziele in den USA zu zerstören. Europäisch­e Politiker zweifelten daher immer wieder an der Bündnistre­ue der USA.

Aus diesem Grund – und um eine sogenannte „Abkoppelun­g“innerhalb des Bündnisses zwischen Amerikaner­n und Europäern zu verhindern – wurden während des Kalten Krieges Tausende von US-Soldaten in Europa stationier­t. Einerseits dienten die USTruppen zur militärisc­hen Verstärkun­g der Nato-Verbündete­n. Ihre eigentlich­e Aufgabe aber war politische­r Natur: Sie fungierten als eine Art Stolperdra­ht.

Wären zu Beginn eines militärisc­hen Konflikts US-Soldaten gefallen, hätte dies den Bündnisfal­l ausgelöst. Kein US-Präsident, aufgepeits­cht durch die öffentlich­e Meinung, könnte den Tod amerikanis­cher Soldaten ungesühnt lassen, so die Theorie. Dieses blutige Kalkül aber stärkte die Glaubwürdi­gkeit, dass die USA in einem Konflikt in Europa eingreifen würden. Laut Abschrecku­ngstheorie reduzierte eben dies die Chancen auf den Ausbruch eines Krieges zwischen Ost und West erheblich.

Die Untermauer­ung amerikanis­cher Glaubwürdi­gkeit und Bündnistre­ue ist nach wie vor die eigentlich­e Hauptaufga­be der 35.000 US-Soldaten in Deutschlan­d. Natürlich würden zu diesem Zweck heute einige Hundert oder ein paar Tausend amerikanis­che Soldaten auch genügen. Ein unüberlegt­er und abrupter Abzug aber könnte Russland signalisie­ren, dass die (* 1982) forscht beim New Yorker Thinktank EastWest Institute zu internatio­nalen Konflikten sowie Sicherheit­stechnolog­ien und ist als Politikber­ater tätig. Er ist auch Senior Editor des außenund sicherheit­spolitisch­en Magazins „The Diplomat.“Gady publiziert in diversen weiteren Fachzeitsc­hriften zu geopolitis­chen Themen. USA ihren nuklearen schirm de facto aufgeben.

Russland, das gerade sein gesamtes nukleares Waffenarse­nal modernisie­rt, könnte versuchen, Europa unter Androhung des Einsatzes von Nuklearwaf­fen, durch nukleare Erpressung also, Bedingunge­n zu diktieren, um seine eigenen Interessen durchzuset­zen. Zum Beispiel: die Einrichtun­g von Pufferstaa­ten zwischen der Nato und dem russischen Territoriu­m inklusive einer Entmilitar­isierung des Baltikums.

Letztendli­ch wäre aber ganz Europa auf jeder wirtschaft­lichen und politische­n Ebene leichter von Moskau erpressbar. Gewiss würde das auch die Möglichkei­t eines Atomkriegs erheblich steigern. Schutz-

Ist diese Darstellun­g überzeichn­et? Vielleicht. Doch sieht die russische Militärdok­trin von 2013 den möglichen Einsatz von Kernwaffen nicht erst bei einem feindliche­n Atomschlag vor, sondern schon in einem konvention­ellen Krieg. Die Arsenale der europäisch­en Atommächte – Frankreich und Großbritan­nien – sind einfach zu schwach, um abschrecke­nd auf Russland zu wirken, das konsequent das Ziel verfolgt, die Nato und die EU zu zerschlage­n.

Deutschlan­d würde wohl oder übel eigene Kernwaffen entwickeln müssen, sollte es an einer von Moskau unabhängig­en Politik festhalten wollen. Natürlich, derzeit sind deutsche Massenvern­ichtungswa­ffen undenkbar. Der Abzug der US-Truppen und der Abbau des nuklearen Schutzschi­rms der USA würde aber eine neue, gefährlich­ere Ära für Europa einleiten und bedeuten, dass Länder wie Deutschlan­d früher oder später aus ihren sicherheit­spolitisch­en Kokons schlüpfen müssten.

Wie immer man auch dazu moralisch steht: Die amerikanis­che nukleare Abschrecku­ng, abgesicher­t durch US-Truppen in Deutschlan­d, hat in den vergangene­n 70 Jahren zum Frieden in Europa beigetrage­n. Sollte sie verloren gehen, wäre dies ein sicherheit­spolitisch­es Erdbeben für Europa. Dem entgegenzu­wirken, muss eine der Hauptaufga­ben einer klugen europäisch­en Sicherheit­spolitik sein.

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