Vier Vorurteile zu Flüchtlingen im Faktencheck
Analyse. Einige mit der aktuellen Flüchtlingsdebatte verknüpfte Informationen sind richtig, andere völlig falsch.
Seit Wochen wird in der europäischen Flüchtlingsdebatte das Hauptaugenmerk auf Lösungen gelegt, wie künftig möglichst wenige dieser Menschen in die EU gelangen. Der Außengrenzschutz soll hochgefahren, der Zugang zu Asylverfahren national erschwert werden. Auch das Treffen der EUInnenminister in Innsbruck beschäftigte sich mit Varianten, wie der Flüchtlingsdruck auf Europa weiter gesenkt werden kann.
Völlig aus dem Fokus ist die Situation jener Menschen geraten, um die es eigentlich geht. Warum kommen sie überhaupt nach Europa, warum bleiben sie nicht in ihrer Region? Wer sind diese Menschen, die eine gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagen? „Die Presse“versucht, vier vorhandenen Vorurteilen zu Flüchtlingen und zur Rolle von Hilfsorganisationen Fakten gegenüberzustellen.
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Das ist so nicht belegbar. Im vergangenen Jahr wurden in der EU 973.330 Asylanträge gestellt. Im gleichen Zeitraum wurden 538.120 positiv abgeschlossen. Das entspricht etwa 55 Prozent. Das heißt, der Anteil der Zuwanderer, die nachweislich in ihrer Heimat verfolgt wurden, deren Menschenrechte eingeschränkt waren oder deren Sicherheit gefährdet war, liegt klar über der Hälfte. In Österreich lag die Asylanerkennungsquote zuletzt bei 50,4 Prozent. Zwar wandern in die EU auch Menschen zu, die überhaupt keinen Asylantrag stellen beziehungsweise nach der Ankunft untertauchen. Die relativ hohe Anerkennungsquote belegt allerdings, dass die Zahl der schutzbedürftigen Menschen so hoch ist, dass derzeit nicht von einer überwiegenden Zahl von Wirtschaftsmigranten gesprochen werden kann.
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Das ist großteils richtig. Es überwiegt nach wie vor die Zahl der geflüchteten Männer. 58,5 Prozent der über das Mittelmeer in Europa Ankommenden waren 2017 männlich. 16,7 Prozent waren Frauen und 24,9 Prozent Kinder. Vielfach machen sich junge Männer allein auf den Weg, in der Hoffnung, ihre Familie später nachzuholen. Die meisten kamen zuletzt aus Syrien und dem Irak mit muslimisch geprägten Gesellschaften. Der Anteil von Ankommenden aus afrikanischen Ländern mit anderen religiösen Hintergründen steigt allerdings derzeit stetig. In Österreich waren laut einer Pew-Research-Studie von den rund 110.000 Flüchtlingen, die das Land zwischen Mitte 2010 und Mitte 2016 aufgenommen hat, 72 Prozent Muslime. Die Situation ist je nach Region unterschiedlich. Von guten Bedingungen kann allerdings kaum in einem der Herkunfts- oder Transitländer gesprochen werden. In Syrien, dem Herkunftsland der meisten Flüchtlinge, wurden 6,1 Mio. Menschen durch den Bürgerkrieg aus ihren Häusern vertrieben. 5,6 Mio. flüchteten in Nachbarländer. Relativ am besten geht es den syrischen Flüchtlingen in der Türkei, wo es auch vonseiten der EU-Staaten Unterstützung gibt. In Jordanien fristen 80 Prozent der vor allem aus Syrien stammenden Flüchtlinge ein Leben unter der Armutsgrenze. Nur ein kleiner Teil der insgesamt 740.160 Personen geht hier einer Arbeit nach. 51 Prozent sind Kinder, für die nicht ausreichend Schulen zur Verfügung stehen. Laut UNHCR können mehr als drei Viertel der Flüchtlinge, die in den städtischen Umgebungen von Jordanien und vom Libanon leben, ihren grundlegenden Bedarf an Nahrung, Unterkunft, Gesundheitsversorgung oder Bildung nicht decken. Im Irak hat sich die Lage nach der Zurückdrängung des IS zwar verbessert. Weite Teile des Landes und viele Städte sind aber zerstört. Es gibt anhaltende Kämpfe, in die diverse Milizen involviert sind. In Afghanistan ist die Lage nach wie vor desaströs. Die Zahl der zivilen Todesopfer der anhaltenden Kämpfe ist hoch. Verwaltung und Justiz funktionieren nicht ausreichend. In Tunesien, das mittlerweile ein relevantes Herkunfts- und Transitland geworden ist, hat sich die Lage zuletzt verschlechtert. Gewaltsame Aktionen von Terrororganisationen gehören laut dem österreichischen Außenministerium in Teilen des Landes zur Tagesordnung.
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Allein das Faktum, dass dieses Jahr bereits 1408 Menschen bei der Fahrt über das Mittelmeer gestorben sind, belegt die Notwendigkeit von Rettungsaktionen. Die libysche Küstenwache brachte seit Jahresbeginn, finanziert von der EU, rund 10.000 Flüchtlinge an die nordafrikanische Küste zurück. Dort sind sie aber nicht sicher, sondern werden zum Teil Opfer von Milizen und Menschenhändlern. Diese schrecken laut Berichten von Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International vor Vergewaltigung, Misshandlung, Folter und Sklaverei nicht zurück. Deshalb brechen viele bei der nächsten Gelegenheit erneut auf. Es gibt Hinweise, dass Schlepper damit spekulieren, dass die von ihnen transportierten Menschen von Hilfsorganisationen aus dem Mittelmeer gerettet werden. Solang das Schlepperwesen nicht bekämpft ist, bleibt aber die einzige inakzeptable Alternative, diese Menschen zu einem noch größeren Teil ertrinken zu lassen.