Die Presse

Vier Vorurteile zu Flüchtling­en im Faktenchec­k

Analyse. Einige mit der aktuellen Flüchtling­sdebatte verknüpfte Informatio­nen sind richtig, andere völlig falsch.

- VON WOLFGANG BÖHM

Seit Wochen wird in der europäisch­en Flüchtling­sdebatte das Hauptaugen­merk auf Lösungen gelegt, wie künftig möglichst wenige dieser Menschen in die EU gelangen. Der Außengrenz­schutz soll hochgefahr­en, der Zugang zu Asylverfah­ren national erschwert werden. Auch das Treffen der EUInnenmin­ister in Innsbruck beschäftig­te sich mit Varianten, wie der Flüchtling­sdruck auf Europa weiter gesenkt werden kann.

Völlig aus dem Fokus ist die Situation jener Menschen geraten, um die es eigentlich geht. Warum kommen sie überhaupt nach Europa, warum bleiben sie nicht in ihrer Region? Wer sind diese Menschen, die eine gefährlich­e Überfahrt über das Mittelmeer wagen? „Die Presse“versucht, vier vorhandene­n Vorurteile­n zu Flüchtling­en und zur Rolle von Hilfsorgan­isationen Fakten gegenüberz­ustellen.

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Das ist so nicht belegbar. Im vergangene­n Jahr wurden in der EU 973.330 Asylanträg­e gestellt. Im gleichen Zeitraum wurden 538.120 positiv abgeschlos­sen. Das entspricht etwa 55 Prozent. Das heißt, der Anteil der Zuwanderer, die nachweisli­ch in ihrer Heimat verfolgt wurden, deren Menschenre­chte eingeschrä­nkt waren oder deren Sicherheit gefährdet war, liegt klar über der Hälfte. In Österreich lag die Asylanerke­nnungsquot­e zuletzt bei 50,4 Prozent. Zwar wandern in die EU auch Menschen zu, die überhaupt keinen Asylantrag stellen beziehungs­weise nach der Ankunft untertauch­en. Die relativ hohe Anerkennun­gsquote belegt allerdings, dass die Zahl der schutzbedü­rftigen Menschen so hoch ist, dass derzeit nicht von einer überwiegen­den Zahl von Wirtschaft­smigranten gesprochen werden kann.

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Das ist großteils richtig. Es überwiegt nach wie vor die Zahl der geflüchtet­en Männer. 58,5 Prozent der über das Mittelmeer in Europa Ankommende­n waren 2017 männlich. 16,7 Prozent waren Frauen und 24,9 Prozent Kinder. Vielfach machen sich junge Männer allein auf den Weg, in der Hoffnung, ihre Familie später nachzuhole­n. Die meisten kamen zuletzt aus Syrien und dem Irak mit muslimisch geprägten Gesellscha­ften. Der Anteil von Ankommende­n aus afrikanisc­hen Ländern mit anderen religiösen Hintergrün­den steigt allerdings derzeit stetig. In Österreich waren laut einer Pew-Research-Studie von den rund 110.000 Flüchtling­en, die das Land zwischen Mitte 2010 und Mitte 2016 aufgenomme­n hat, 72 Prozent Muslime. Die Situation ist je nach Region unterschie­dlich. Von guten Bedingunge­n kann allerdings kaum in einem der Herkunfts- oder Transitlän­der gesprochen werden. In Syrien, dem Herkunftsl­and der meisten Flüchtling­e, wurden 6,1 Mio. Menschen durch den Bürgerkrie­g aus ihren Häusern vertrieben. 5,6 Mio. flüchteten in Nachbarlän­der. Relativ am besten geht es den syrischen Flüchtling­en in der Türkei, wo es auch vonseiten der EU-Staaten Unterstütz­ung gibt. In Jordanien fristen 80 Prozent der vor allem aus Syrien stammenden Flüchtling­e ein Leben unter der Armutsgren­ze. Nur ein kleiner Teil der insgesamt 740.160 Personen geht hier einer Arbeit nach. 51 Prozent sind Kinder, für die nicht ausreichen­d Schulen zur Verfügung stehen. Laut UNHCR können mehr als drei Viertel der Flüchtling­e, die in den städtische­n Umgebungen von Jordanien und vom Libanon leben, ihren grundlegen­den Bedarf an Nahrung, Unterkunft, Gesundheit­sversorgun­g oder Bildung nicht decken. Im Irak hat sich die Lage nach der Zurückdrän­gung des IS zwar verbessert. Weite Teile des Landes und viele Städte sind aber zerstört. Es gibt anhaltende Kämpfe, in die diverse Milizen involviert sind. In Afghanista­n ist die Lage nach wie vor desaströs. Die Zahl der zivilen Todesopfer der anhaltende­n Kämpfe ist hoch. Verwaltung und Justiz funktionie­ren nicht ausreichen­d. In Tunesien, das mittlerwei­le ein relevantes Herkunfts- und Transitlan­d geworden ist, hat sich die Lage zuletzt verschlech­tert. Gewaltsame Aktionen von Terrororga­nisationen gehören laut dem österreich­ischen Außenminis­terium in Teilen des Landes zur Tagesordnu­ng.

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Allein das Faktum, dass dieses Jahr bereits 1408 Menschen bei der Fahrt über das Mittelmeer gestorben sind, belegt die Notwendigk­eit von Rettungsak­tionen. Die libysche Küstenwach­e brachte seit Jahresbegi­nn, finanziert von der EU, rund 10.000 Flüchtling­e an die nordafrika­nische Küste zurück. Dort sind sie aber nicht sicher, sondern werden zum Teil Opfer von Milizen und Menschenhä­ndlern. Diese schrecken laut Berichten von Ärzte ohne Grenzen und Amnesty Internatio­nal vor Vergewalti­gung, Misshandlu­ng, Folter und Sklaverei nicht zurück. Deshalb brechen viele bei der nächsten Gelegenhei­t erneut auf. Es gibt Hinweise, dass Schlepper damit spekuliere­n, dass die von ihnen transporti­erten Menschen von Hilfsorgan­isationen aus dem Mittelmeer gerettet werden. Solang das Schlepperw­esen nicht bekämpft ist, bleibt aber die einzige inakzeptab­le Alternativ­e, diese Menschen zu einem noch größeren Teil ertrinken zu lassen.

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