Ist die „gefühlte“Inflation doch echt?
Teuerung. Menschen mit unterdurchschnittlichen Einkommen leiden unter weit überdurchschnittlicher Teuerung. Die offizielle Inflationsrate verschleiert die wahre Belastung.
Die Europäische Zentralbank begründet ihre anhaltende Politik des billigen Geldes damit, dass es ihr noch immer nicht gelungen sei, die Inflationsrate in die Nähe ihres selbst definierten Zielwertes von zwei Prozent zu bringen (wenngleich sie in einigen Ländern, darunter Österreich, schon leicht darüber liegt). Die Preise steigen demnach in der Eurozone seit Jahren viel zu langsam, sagen die Ökonomen.
Alles wird teurer, die Geldentwertung frisst jede Lohnerhöhung weg, der Euro ist ein echter „Teuro“, sagen viele Konsumenten. Die offizielle Inflationsrate sei von der Realität weit entfernt – die wahre Inflation liege zumindest doppelt so hoch. Ökonomen nennen das die „gefühlte Inflation“, ein Begriff, in dem ein bisschen der Vorwurf der Einbildung mitschwingt.
Wer hat jetzt recht? Zwei Frankfurter Uni-Professoren haben dazu eine umfassende Studie mit Daten über 15 Jahre aus 25 EULändern (Österreich ist leider nicht darunter) erarbeitet (Alfons J. Weichenrieder, Eren Gürer: „Pro-Rich Inflation in Europe: Implications for the Measurement of Inequality“).
Das Ergebnis kurz zusammengefasst: Kommt darauf an, wie man lebt. Menschen, die einen überdurchschnittlichen Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel, Wohnen, Energie und Verkehr ausgeben – also weniger Begüterte –, leiden unter einer deutlich überdurchschnittlichen Inflation. Denn diese Bereiche haben sich in den vergangenen 15 Jahren stark überdurchschnittlich verteuert. Im Europaschnitt ist demnach die Inflationsrate der Armen um ein Viertel höher als jene der Reichen. Da läppert sich über die Jahre schnell etwas zusammen. Das hat natürlich auch gesellschaftliche Implikationen. Unter anderem beeinflusst es die Vermögensverteilung, die sich dadurch noch ein wenig krasser, als es die Nullzinspolitik ohnehin vorgibt, zugunsten der Vermögenden verschiebt.
Man kann das jetzt natürlich als ideologisch gefärbte Arbeit abtun, aber die Fakten sprechen doch eine recht deutliche Sprache: Österreich veröffentlicht beispielsweise neben dem Harmonisierten Verbraucherpreisindex noch Indizes für Warenkörbe, die dem täglichen und dem wöchentlichen Einkauf nachempfunden sind. Und die weisen eine annähernd doppelt so hohe Teuerung aus wie der allgemeine Verbraucherpreisindex. Je größer also der Anteil für Güter des täglichen Lebens am Einkommen, desto größer auch die persönliche Inflationsrate.
Ist der VPI also purer Schwindel? Das kann man so nicht sagen. Nichts ist schwieriger, als einen Warenkorb zusammenzustellen, der die Ausgabenstruktur einer ganzen Bevölkerung einigermaßen genau abbildet. Aber es kann jeder den Test für sich selbst machen: Man nimmt die Zusammensetzung des österreichischen Warenkorbs her – und schaut, ob die Struktur einigermaßen dem eigenen Ausgabenprofil entspricht.
In diesem Warenkorb werden Nahrungsmittel mit 10,1 Prozent bewertet, Wohnung, Wasser, Energie mit 19,9 Prozent und Verkehr mit 12,5 Prozent. Das österreichische Haushalts-Medianeinkom- men inklusive Transfers (50 Prozent haben weniger, 50 Prozent mehr), liegt bei annähernd 3000 Euro im Monat. Ein derartiger Haushalt dürfte, um die offizielle Inflation abzubilden, für Nahrung maximal 300 Euro, für Miete, Heizung, Strom und Wasser maximal 600 Euro und für Auto (inklusive Wertverlust, Treibstoff und Versicherung) und Öffis maximal 375 Euro im Monat ausgeben. Liegt das Einkommen darunter, müssen die Werte aliquot nach unten angepasst werden.
Selbst mit einem Medianeinkommen – da befinden wir uns schon tief im Mittelstand – wird man also von einer wesentlich höheren Geldentwertung getroffen, als die offizielle Inflationsrate anzeigt. Und je tiefer man einkommensmäßig fällt, desto höher wird die persönliche Teuerungsrate.
Für deutlich mehr als die Hälfte der österreichischen Haushalte gilt also: Die gefühlte Teuerung ist nicht, wie man ihnen einzureden versucht, „gefühlt“, sondern die echte Inflation.
Natürlich kann eine Europäische Zentralbank nicht die persönliche Inflationsrate der Familie Travnicek als Maßstab für ihre Politik nehmen. Aber über die behauptete Deflationsgefahr, mit der die anhaltende Nullzinspolitik begründet wird, können die meisten Durchschnittseuropäer wohl nur ziemlich bitter lächeln.
Da scheint es schon lange nicht mehr um Preisstabilität, sondern um die Nullzins-Finanzierung reformresistenter Eurostaaten zu gehen. Die, wie man an der Entwicklung sieht, vor allem von denen bezahlt werden muss, die durchschnittlich bis unterdurchschnittlich verdienen. Ein Pluspunkt für das Projekt Europa ist das eher nicht.