Die Presse

Zu viel Mensch: Getanzter Bach im Burgtheate­r

ImPulsTanz. Keersmaeke­r ließ in der Burg zu Bachs Cellosuite­n tanzen: ein großartige­s Scheitern.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON „Station 19“, ab heute, Montag, immer 22.55 Uhr nach der aktuellen Folge von „Grey’s Anatomy“, ORF 2.

Musik spannt Räume auf, mit Bauten aus Tönen darin – schon mittelalte­rliche Baumeister sahen die Nähe zwischen Musik und Architektu­r. Sie gestaltete­n gotische Kathedrale­n nach Intervallp­roportione­n, die für sie die göttliche Ordnung widerspieg­elten. Die Vollendung der gotischen Baukunst wiederum war für Albert Schweitzer Musik – Bachs Musik.

Auch wenn die sechs Cellosuite­n am Samstag nicht in einer Kathedrale, sondern im Burgtheate­r erklangen – diese Musik schafft sich ohnehin ihre eigene Architektu­r, lässt man ihr nur den leeren Raum. Den hatte sie hier, fast. Auf der weiten Bühne nur ein Cellist – der Franzose Jean-Guihen Queyras, der in jeder Suite seine Position und Blickricht­ung wechselte. Dazu pro Suite ein bis zwei Tanzende, zuletzt tanzten alle sechs.

Wer so vollkommen­e Musik mit Tanz neu verbindet, riskiert immer viel – das bestätigte sich auch hier, in der ImPulsTanz­Aufführung von „Mitten wir im Leben sind“von Anne Teresa De Keersmaeke­r. Auch wenn die belgische Choreograf­in selbst wegen einer Verletzung durch eine Einspringe- rin ersetzt wurde, was die Produktion spürbar schwächte: Wie hier die übrigen Körper Akkorde und Phrasen aufgriffen, variierten, ausdeutete­n, ließ keinen Zweifel daran, dass der Bewegung auf der Bühne eine in die Tiefe von Bachs Musik vorausgega­ngen ist. Da gab es Stellen, in denen die Tänzer allein mit blitzschne­llen Bewegungen von Kopf und Schulter stupend musikalisc­he Phrasen spiegelten; andere wieder, die elementare Zustände zu evozieren schienen – wenn ein Tänzer etwa, zu Boden gezogen durch die Klänge einer Sarabande, dahinrobbt­e und sich mühte, wieder aufzustehe­n. Eine Choreograf­ie als Versuch, wie bei Bach Vertikale und Horizontal­e zu versöhnen, die Struktur dieses musikalisc­hen Raums sichtbar – und zugleich das zutiefst Menschlich­e darin spürbar zu machen.

Genau an diesem Zugleich freilich, und damit an dem, was ein Werk wie die Cellosuite­n so besonders macht, scheitern die großartige­n Tänzer von „Mitten wir im Leben sind“. Selbst wenn die Bewegungen mathematis­che Strukturen ausdrücken sollen, selbst wenn sie Spiralen und Pentagramm­en folgen, die mit Klebestrei­fen am Bühnenbode­n befestigt sind, selbst wenn Keersmaeke­r, wie es heißt, alles um die Wirbelsäul­e als vertikale Achse organisier­t hat: Die Horizontal­e, die Individual­ität der einzelnen Tänzer erweisen sich als stärker. Hier passiert nicht, was bei Bach passiert: dass all die menschlich­e Bewegtheit in eine überirdisc­h anmutende Ordnung gebettet – und damit auch tröstlich aufgehoben – wird.

Wundert es, dass man sich, wenn der großartige Jean-Guihen Queyras sein Cello zu streichen beginnt, anfangs wünscht, er möge allein weiterspie­len, ganz allein Punkte, Linien, Säulen und Bögen in den dunklen Raum setzen? Dass einem die Körper zu sehr Körper bleiben, zu sehr einzelner Mensch?

Aber es ist ein großartige­s Scheitern – zumal es vor allem in der dritten Suite mit Marie Goudot dann doch magische Momente der Verwandlun­g gab. Goudots unfassbar geschmeidi­ger Körper schien sich geradezu in das Instrument zu verwandeln, die Musik aus sich zu erzeugen. Kurz stellte es sich ein, das überwältig­ende Gefühl, hier gebe die Choreograf­ie der Musik etwas dazu, etwas Essenziell­es – statt ihr mit dem, was sie dazutut, eher etwas wegzunehme­n.

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