Brexit: May droht neuer Showdown
Großbritannien. Ex-Ministerin Greening will zweite Volksabstimmung: „Der Chequers-Kompromiss ist tot“
Im Unterhaus in London steht die politische Zukunft von Premierin May auf dem Spiel.
London. Als „fudge“bezeichnet man in Großbritannien nicht nur eine klebrige Süßigkeit auf Karamellbasis. Ein „fudge“ist in der Umgangssprache auch eine Schummelei, ein fauler Kompromiss oder schlichtweg ein Mist. Mit diesem harten Wort charakterisierte gestern, Montag, die frühere Unterrichtsministerin der Konservativen, Justine Greening, die neue Position der britischen Regierung zum Brexit. Diese ist so weich wie ein Buttertoffee. Für Greening bedeutet das vor zehn Tagen am Landsitz Chequers verein- barte Brexit-Weißbuch der Regierung „die schlechteste aller Möglichkeiten“: „Wir zerren jene, die bleiben wollen, aus der EU mit einer Vereinbarung, die weiter mit vielen EU-Regeln übereinstimmt, aber keine Mitsprache mehr erlaubt. Und für jene, die aus der EU austreten wollen, bedeutet das Papier nicht jenen klaren Bruch, den sie anstreben.“Daher sei der „ChequersKompromiss tot“.
Weil sich die britische Politik in einer „Pattstellung“befindet, fordert Greening, die Entscheidung an das Volk zurückzugeben: Das Volk solle zwischen den Optionen weicher, harter oder kein Brexit entschei- den. Premierministerin Theresa May hat ein zweites Referendum stets ausgeschlossen: „Das Volk hat gesprochen.“Sie wiederholte gestern: „Unter keinen Umständen“werde es eine zweite Volksabstimmung geben.
Im Unterhaus ist in den nächsten Tagen erneut Mays politisches Überleben in Gefahr. Zur Abstimmung gelangen Gesetzesentwürfe über die Steuerhoheit und die Zollunion mit der EU. Gepfeffert werden die technischen Materien aber durch Änderungsanträge, die im direkten Widerspruch zur neuen Regierungsposition stehen. Die Brexit-Fundamentalisten unter den Konservativen um Jacob Rees-Mogg haben vier An- träge gestellt, die eine Umsetzung des Chequers-Papiers unmöglich machen würden. So groß ist der Vertrauensverlust der Regierung, dass Greening meint: „Egal, was dem Parlament vorgelegt wird, es wird immer Abgeordnete geben, die dagegenstimmen.“
In Wahrheit geht es nicht um Finessen eines Brexit-Deals, sondern um die Macht. Rees-Mogg soll 60 der 316 konservativen Abgeordneten kontrollieren. Für eine Misstrauensabstimmung gegen May müssen mindestens 48 Anträge vorliegen. „Wir sind vollkommen entspannt“, hieß es gestern vonseiten der Hardliner. Hinter den Kulissen bemühte sich die Parteiführung fieberhaft um die Vermeidung einer offenen Konfrontation.
Labour in Umfragen voran
Zugleich konterte May den Rebellen: „Ich bin langfristig hier.“Tatsächlich müssen die Rebellen achten, ihr Pulver nicht zu früh zu verschießen. Es gilt als ausgeschlossen, dass sie die für einen Sturz von May erforderlichen 159 Stimmen beisammen haben. Scheitern sie mit einem Misstrauensantrag, dürfen sie erst in zwölf Monaten wieder einen stellen. Sollten aber mehr als 100 Abgeordnete aus den eigenen Reihen der Premierministerin die Gefolgschaft verweigern, gilt ihre Position dennoch als ernsthaft gefährdet. Dem Vernehmen nach bereitet sich die oppositionelle Labour Party bereits auf Neuwahlen im Herbst vor. Die Partei von Jeremy Corbyn liegt in jüngsten Umfragen fünf Punkte voran, May erlitt im Juni 2017 bei einem vorgezogenen Urnengang eine böse Schlappe.
Dennoch ist unter den Tories weiter kein ernst zu nehmender Konkurrent aufgetaucht. Rees-Mogg, ein Exzentriker, der Manieren aus dem 19. Jahrhundert mit Ansichten aus dem 18. verbindet, hat sich als Premier bereits „mit Sicherheit“aus dem Spiel genommen. Im Schützengraben lauert der vor einer Woche zurückgetretene Außenminister Boris Johnson. In seiner ersten öffentlichen Äußerung seither schrieb er gestern in einer Zeitungskolumne über sein Steckenpferd „Global Britain“, während er nach eigenen Worten „zum Brexit – vorerst – der Versuchung einer Äußerung widerstand“. Vorerst.