Frischer als die Dreigroschenoper
Spoleto. Beim 61. Festival dei Due Mondi begeistert eine wilde Inszenierung der „Beggar’s Opera“. Starregisseur Romeo Castellucci enttäuscht mit aufgewärmten Obsessionen.
Seit 1995 haben wir noch nie so viele Gäste gehabt wie heuer“, sagt der Nachtportier, und der muss es ja wissen. In der Tat scheint das berühmte Festival dei Due mondi in der umbrischen Kleinstadt Spoleto, vom legendären Giancarlo Menotti gegründet und dann lange Zeit ins Abseits geraten, unter dem neuen Direktor, Giorgio Ferrara, nicht nur besucherzahlenmäßig, sondern auch künstlerisch wieder an die alten Zeiten anzuschließen. Ferraras Mut, heuer nicht mit einer der üblichen Mozart-Opern, sondern mit dem Auftragswerk „Minotauro“der jungen italienischen Komponistin Silvia Colasanti zu eröffnen, wurde gerechterweise sofort mit einem großen Erfolg bei Kritik und Publikum belohnt.
Den Superhit bescherte ihm allerdings das Gastspiel der genialen Robert-CarsenProduktion von John Gays und Johann Christoph Popuschs „The Beggar’s Opera“. Diese Bettleroper, bekanntlich der Steinbruch, aus dem sich Brecht und Weill ungeniert für ihre „Dreigroschenoper“bedient haben, wird ja leider sehr selten aufgeführt. Zu Unrecht, denn das Original wirkt frischer als das 20erJahre-Imitat. Hautsächlich aus zwei Gründen: weil ihr anarchischer Drive von keinerlei Parteipropaganda gebremst wird und weil es von Popusch & Gay keine Nachkommen gibt, die diese Inszenierung hätten verhindern können (was die Fa. Brecht Erben sicher getan hätte).
Beim Eintreten ins Teatro Nuovo ist man zuerst einmal verwundert: Auf der Bühne ist eine riesige Wand aus Pappkartons. Weit und breit kein Orchester, nicht einmal ein Orchestergraben. Angst keimt: Sind wir hereingelegt worden? Soll hier eine „Beggar’s Opera“ohne Musik aufgeführt werden, oder, noch schlimmer, mit Musik vom Band?
Doch dann geht das Licht aus. Und es beginnt der irrwitzigste Auftakt eines Musiktheaterabends, den man sich vorstellen kann. Aus etlichen der Kartons schälen sich punkartig gestylte Gestalten, befreien mit viel Verve ihre Musikinstrumente aus anderen Kartons und lassen sich mit ihnen auf der linken Bühnenseite nieder. Da ist es also doch, das Orchester . . .
Carsen und sein Dramaturg Ian Burton ziehen das Werk brutalst über den Zeitgenössischkeitstisch – mit etlichen Versatzstücken, die man mittlerweile normalerweise hasst, z. B. mit tagespolitisch aktualisierten Texten, champagnerfarbenen iPhone-XHandys, Koks bis zum Abwinken, einem Haufen Multikulti-Prostituierten etc. etc.
Doch wider Willen muss man konstatieren: Das alles geht sich irgendwie blendend aus. Hauptverantwortlich dafür: das unglaubliche Ensemble, das Carsen handverlesen hat. Man weiß gar nicht, welche Berufsbezeichnung man seinen Mitgliedern geben soll: Schauspieler? Sänger? Tänzer? Akrobaten? Greift alles zu kurz, denn diese Men- schen und Menschinnen können schlicht und einfach alles und noch mehr. Willkürlich aus dieser Karl-Popper-Akademie der darstellenden Künste herausgegriffen: die beherzt gegen die Rollentradition anspielende Emma Kate Nelson als blonde Jenny.
Carsen sieht die „Beggar’s Opera“ja als erstes „Jukebox-Musical“der Geschichte, hat Popusch doch schon in die Originalpartitur etliche zu seiner Zeit populäre irische und schottische Folksongs verwoben sowie Parodien der berühmtesten Arien aus der Händel’schen Opernfabrik. Mithilfe von niemand Geringerem als dem Papst der Barockmusik, William Christie, bereichern Carsen & Burton die Komposition noch einmal um unzählige Zitate, Querverweise und musikalische Scherze, sodass einem den ganzen Abend lang nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren sperrangelweit offen bleiben. Eine Sternstunde des Musiktheaters.
Im Theaterbereich waren die Augen und Hoffnungen auf Romeo Castelluccis Projekt „Giustizia.Possibilt`a.Essere.“gerichtet. Der italienische Extremregisseur, der gerade in Salzburg „Salome“für die riesige Felsenreitschule inszeniert, war sich nicht zu schade, vorher noch in einem hässlichen Turnsaal an der hässlichen Peripherie von Spoleto seine Assoziationen zu Hölderlins „Tod des Empedokles“zu präsentieren – und das für nur jeweils 60 Zuschauer. Diese Haltung ist ja an sich bewunderungswürdig, das Produkt entpuppte sich aber leider als eine Art Potpourri der gewalttätigen Obsessionen seiner Frühzeit: Schüsse gegen den Plafond wie in „A come Amleto“, ein gefräßiger Schäferhund wie in „Inferno“, eine nervenzerfetzende, sadistische Soundlärmkulisse (die diesmal die Geräusche eines Schwarzen Loches wiedergeben sollte) wie in „Tragedia Endogonida“, pathetisch-dilettantisch nachgemachte Schultheatergesten wie in „Giulio Cesare“, etwas anti-erotische Nacktheit wie in vielen anderen seiner Stücke.
So blieb es der Accademia Silvio d’Amico vorbehalten, für Überraschungen zu sorgen. Diese Schauspielschule, sozusagen das italienische Reinhardt-Seminar, durfte sich in Spoleto ausführlich präsentieren – wäre solches nicht auch eine Idee für österreichische Festivals? Sie brachte Rares: von Harold Pinter die frühen Einakter „Collection“und „Landscape“und seine Dramatisierung der Proust’schen „Recherche“, von Tennessee Williams „Vieux Carre“,´ „Lovely Sunday for Cr`eve-Coeur“und „Eccentricities of a Nightingale“. Besonders letzteres Stück mit dem Porträt der sensiblen Außenseiterin Alma erwies sich als echte Entdeckung. Exzellente, jeder Schmiere abholde Jungschauspielerinnen, geführt von relativ dekonstruktionsmodenresistenten Jungregisseuren: Es gibt noch Hoffnung für das italienische Theater . . .