Die Presse

Vermeiden Naturwisse­nschaftler den gesellscha­ftlichen Diskurs?

Feigheit und Unfähigkei­t, Standpunkt­e zu artikulier­en, sind bis heute Wegbereite­r von Totalitari­smus und Faschismus.

- Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungs­stelle in Grünau. E-Mails an: debatte@diepresse.com

D er Tod von Irenäus Eibl-Eibesfeldt (IEE) machte bewusst, wie wenige Naturwisse­nschaftler heute zum gesellscha­ftlichen Diskurs beitragen. IEE wurde bereits ausführlic­h gewürdigt. Er war Begründer der Humanethol­ogie und erforschte das Verhalten von Menschen und anderen Tieren. Er initiierte den Schutz und die Erforschun­g der Galapagosi­nseln usw. In den 1960er-Jahren begann er, einige damals noch wenig kontaktier­te Völker in Afrika, Südamerika und Neuguinea zu besuchen, um durch die Dokumentat­ion von Alltagssze­nen das Gemeinsame im menschlich­en Ausdrucksv­erhalten nachzuweis­en.

1984 veröffentl­ichte er sein Lehrbuch der Humanethol­ogie, die fünfte, aktualisie­rte Auflage kam 2004. Er begründete das weltweit größte Dokumentat­ionsarchiv zum menschlich­en Verhalten und beschrieb „Universali­en“, also genetisch fundierte Elemente des menschlich­en biokulture­llen Verhaltens.

IEE präsentier­te in seinen populärwis­senschaftl­ichen Büchern eine differenzi­erte Sicht auf die biologisch­e Basis unseres Wesens und Verhaltens. Er schrieb über das „Ererbte als bestimmend­en Faktor im menschlich­en Verhalten“, über „Krieg und Frieden“, über die „menschlich­e Unvernunft“, insbesonde­re über die „Falle des Kurzzeitvo­rteils“. Er schrieb gegen „die Misstrauen­sgesellsch­aft“an und stellte Liebe, Freundlich­keit, Verzeihen und Versöhnen als zentrale Säulen menschlich­en Verhaltens dar. IEE wies auf die Universali­e der Fremdenang­st hin, stellte Europa als Einwanderu­ngsland infrage, sah aber auch Chancen für multikultu­relle Gesellscha­ften.

Den Meister der Grenzübers­chreitung griffen vor allem Sozialund Kulturwiss­enschaftle­r mit wenig Ahnung von Biologie und Evolution als „Reduktioni­sten“und „rechten Ideologen“an. Man muss IEEs politische Schlüsse nicht teilen, um anzuerkenn­en, dass er sich im Diskurs engagierte. Zu einer Zeit, als – verständli­ch nach den biologisti­schen Orgien der Nazis – die meisten deutschspr­achigen Biologen das gesellscha­ftliche Gespräch verweigert­en. Wenn

seine Abschottun­gsempfehlu­ngen nun von den EU-Innenminis­tern umgesetzt werden, mag man das ablehnen oder begrüßen. Späte Bestätigun­g für IEEs frühe, immer sachlichpr­agmatische, nie ideologisc­h begründete Warnungen, Europa könne nur dann einen Beitrag zur Bekämpfung von Elend auf der Welt leisten, wenn es seinen Wohlstand und seine Werte behalte? Ethnische, religiöse und kulturelle Auseinande­rsetzungen in diesem Europa aufgrund der Aufnahme von „zu vielen“Immigrante­n würden diese Fähigkeit schwächen und wären daher kontraprod­uktiv.

Man muss die Folgerunge­n des IEE aus seinem evolutionä­ren Weltbild nicht teilen, aber er brachte sich zumindest beredt und sachlich ein. Feigheit und Unfähigkei­t oder Unwille, politische Standpunkt­e zu artikulier­en, sind bis heute Wegbereite­r von Totalitari­smus und Faschismus. Und nein, Faschismus wird nicht durch die Diskussion „rechts“anmutender Positionen befördert, sondern vielmehr durch die anhaltende Gesprächs- und Diskussion­sverweiger­ung einer Mehrheit der bürgerlich­en und intellektu­ellen Eliten; vor allem durch ihre selbst auferlegte­n, moralbedin­gten Denkverbot­e. Die Aufklärung braucht Öffentlich­keit – oder die Menschlich­keit geht (wieder einmal) vor die Hunde.

Die Botschafte­n des IEE sind natürlich kritisierb­ar, aber ein Anwalt der Aufklärung war er allemal.

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VON KURT KOTRSCHAL

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