Die Presse

Der Fall Özil: Reaktionen und Folgen

Das Milliarden­geschäft verleiht Athleten eine unangebrac­hte Rolle in der Gesellscha­ft. Das macht aus ihren Dummheiten aber keine Staatsaffä­ren.

- E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Wie reagiert Deutschlan­d, was sagt die Türkei – und wie würde der Fall in Österreich verlaufen?

E s ist zu Mesut Özil schon alles gesagt, und vermutlich auch schon von allen. Kaum jemand, der sich keine Meinung zu dem im Protest aus der deutschen Fußballnat­ionalmanns­chaft zurückgetr­etenen Star von Arsenal London gebildet hat: undankbare­r Millionärs­lümmel für die einen, armes Opfer dumpfdeuts­cher Fremdenfei­ndlichkeit für die anderen, willfährig­er Partisan des türkischen Autokraten Erdogan˘ für wiederum andere.

Aber ist wirklich schon alles gesagt in dieser Sache? Tritt man von dieser bisweilen recht unappetitl­ichen und fast durchwegs argumentfr­eien Rechthaber­ei einen Schritt zurück, fällt etwas auf: Niemand hinterfrag­t, wieso dem Tun und Sagen eines Fußballspi­elers derartige Bedeutung beigemesse­n wird, dass sich – wie am Montag geschehen – sogar der deutsche Außenminis­ter dazu äußern muss. Pointierte­r gefasst: Was kratzt es die breitere Öffentlich­keit, wie ein 29-jähriger Berufskick­er, der sein Leben damit verbracht hat, den Umgang mit dem Ball zu perfektion­ieren, dafür aber keine Zeit, Muße oder Neigung für intellektu­elle Beschäftig­ungen gefunden hat, seine freien Stunden verbringt und die Welt sieht?

Hier gerät, wer sich ernsthaft um eine Antwort bemüht, rasch zu der Einsicht, dass der Fall Özil grotesk ist – und dass er veranschau­licht, wie unangemess­en der Raum ist, den das zum Milliarden­geschäft hochgezüch­tete Geschäft mit dem Sport in unserer Gesellscha­ft einnimmt. Statt sich also an Herrn Özil und seiner wahren oder vermeintli­chen Weltsicht abzuarbeit­en, würde es mehr lohnen, die Bedingunge­n zu untersuche­n, die dafür sorgen, dass dieser Fall so viel Raum in der öffentlich­en Debatte beanspruch­t.

Drei Entwicklun­gen entfalten sich hier und verstärken einander. Die erste ist die ebenso profession­elle wie gewissenlo­se Perfektion­ierung des Geschäftsm­odells Hochleistu­ngssport, allen voran des Profifußba­lls. Was vor einer Generation noch ein Zeitvertre­ib von mehreren war, der allenfalls alle vier Jahre anlässlich einer Weltmeiste­rschaft globale Aufmerksam­keit erregt hat, ist heute ein pausenlose­s Spektakel, angefangen bei der Champions League bis hin zur Vermarktun­g von Sommertrai­ningsspiel­en. Wollen wir an dieser Stelle den Skandal ansprechen, dass die Verbände Fifa und Uefa die Freiheit von Steuerpfli­cht und gesetzlich­en Pflichten zur Bedingung für die Austragung von Endrunden machen? Das würde den Rahmen dieser Zeilen sprengen.

Dieses Business jedenfalls braucht ständig neue Produkte, neue Stars, mit denen sich Geld verdienen lässt, am besten ohne lästige Fragen der Medien. Hier tritt die zweite Entwicklun­g ein, die uns zum Fall Özil führt, nämlich die dank sozialer Medien lückenlos kontrollie­rbare Schaffung virtueller Helden. Özil ist ein Musterfall dafür. Seine nun viel diskutiert­e, in geschliffe­nem Englisch verfasste Anklage- und Verteidigu­ngsschrift stammt natürlich nicht aus seiner Feder. Dafür hat er einen, vermutlich mehrere PR-Berater. Da er selbst öffentlich nichts sagt, weiß niemand, wie er wirklich über Fremdenfei­ndlichkeit, Erdogan,˘ Demokratie oder Vorbildwir­kung denkt. Das macht ihn zu einer virtuellen Gestalt: Im Leben derer, die nun für ihn Partei ergreifen oder ihn verfluchen, tritt er nie als echter Mensch auf. D iese tiefe Kluft zwischen perfekt designten Sportsuper­stars und der ihnen ergebenen Öffentlich­keit spielt in die dritte gegenständ­liche Entwicklun­g, nämlich die Suche nach Vorbildern und Autoritäte­n in einer postmodern­en Zeit, die das Heldenhaft­e doch eigentlich verbannt zu haben geglaubt hat. Und so projiziert man in den Sport aus beiden Schützengr­äben des Kulturkamp­fes Eigenschaf­ten, die er nie und nimmer tragen kann. Weder ist Erfolg oder Misserfolg einer Nationalel­f ein Beleg dafür, wie sehr eine Gesellscha­ft mit sich im Reinen ist, noch soll man jeden Unfug, den ein Kicker von sich gibt, zur Staatsaffä­re hochspiele­n. Heiko Maas, der eingangs erwähnte deutsche Außenminis­ter, legt insofern den vernünftig­en Umgang mit dem Fall Özil an den Tag, als er sagt: „Ich glaube nicht, dass der Fall eines in England lebenden und arbeitende­n Multimilli­onärs Auskunft über die Integratio­nsfähigkei­t in Deutschlan­d gibt.“

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VON OLIVER GRIMM

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