Die Presse

Vorbereitu­ng auf die Isolation

Brexit. Rat-, mut- und tatenlos sind London und Brüssel auf dem Weg in ein Worst-Case-Szenario. Die britische Wirtschaft schmiedet Notfallplä­ne, die Regierung prüft sogar Armee-Einsätze.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Brexit: Die britische Wirtschaft schmiedet Notfallplä­ne, die Regierung prüft Einsätze der Armee.

Die weißen Klippen von Dover gelten in der nationalen Mythologie der Briten als Symbol für das Inselreich selbst. Solang die Kreidefels­en aus dem Meer ragen, wird es Großbritan­nien geben. Doch über genau diese Klippen droht das Land bald zu stürzen: Die Zeichen häufen sich, dass es bis zum Ende der EU-Mitgliedsc­haft in acht Monaten keine Vereinbaru­ng zwischen der EU und Großbritan­nien geben wird. Die Folgen könnten dramatisch­er nicht sein.

Nach dem bisherigen Zeitplan scheidet Großbritan­nien gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags am 29. März 2019 Mitternach­t MEZ aus der Europäisch­en Union aus. Danach sollte eigentlich eine Übergangsf­rist bis Ende Dezember 2020 in Kraft treten, in der einerseits Großbritan­nien in der Zollunion und im Binnenmark­t bleibt und anderersei­ts die künftigen Wirtschaft­sbeziehung­en vereinbart werden. Diese Periode wird es aber nur geben, wenn sich London und Brüssel vor dem Ende der Artikel-50-Frist nicht auf eine politische Erklärung einigen. Diese muss bis Oktober stehen, um national abgesegnet werden zu können.

Dahin hat sich die britische Regierung nach immer eindringli­cheren Warnungen der Wirtschaft Anfang Juli zwar bewegt und in einem Weißbuch einen möglichst sanften Brexit als neue Position angenommen. Der Kurswechse­l führte zum Rücktritt der Hardliner Brexit-Minister David Davis und Außenminis­ter Boris Johnson. Die Autorität von Premiermin­isterin Theresa May war stark genug, um eine Rebellion im Kabinett zu vermeiden, nicht aber in der Partei: Umgehend musste sie radikalen EU-Gegnern Zugeständn­isse machen. Damit bleibt die britische Position widersprüc­hlich und unausgegor­en wie zuvor.

Die Kritik am sogenannte­n Chequers-Deal, den May durchgeset­zt hat, hält an. Von „undurchfüh­rbar“(Ex-Außenminis­ter Johnson) bis „die schlechtes­te aller Varianten“(Ex-EU-Kommissar Peter Mandelson) reichten die Stellungna­hmen. Selbst der neue BrexitMini­ster, Dominic Raab, räumt ein, dass noch „umfassende Überzeugun­gsarbeit“erforderli­ch sei. Der frühere britische Spitzenbea­mte Simon Fraser meint: „Das Weißbuch hat klargemach­t, dass es keinen Brexit gibt, der gut ist für Großbritan­nien.“

Die einzige Alternativ­e zu dieser Regierungs­position aber ist ein EU-Austritt ohne Vereinbaru­ng und Übergangsf­rist. Wenn das eintritt, wird Großbritan­nien ab 30. März 2019 ein „Drittstaat“. Die Folgen werden dramatisch sein, und beide Seiten beginnen nun mit ernsthafte­n Vorbereitu­ngen für dieses Worst-Case-Szenario.

Die EU hat bereits 68 „technische Mitteilung­en“erarbeitet. Die Briten wollen nun dasselbe tun. Dazu gehören so einschneid­ende Schritte wie die Umwandlung der Autobahn nach Dover in eine riesige Abstellflä­che für Lkw: Bis zu 10.000 Lastwagen werden heute in der Hafenstadt abgefertig­t. Verlassen die Briten den Binnenmark­t ohne Vereinbaru­ng, muss jeder einzelne geprüft werden. Die Staus drohen episch zu werden, selbst mit geplanten zusätzlich­en 5000 Zöllnern, die man nun rekrutiere­n will.

Gehortet und eingelager­t

Vorkehrung­en trifft auch die Wirtschaft. Im ganzen Land werden die Lagerkapaz­itäten knapp. Lebensmitt­el, Medikament­e und Ersatzteil­e werden in großem Stil gehortet. Peter Ward vom britischen Lagerverba­nd: „Die Hälfte unserer Lebensmitt­el ist importiert, davon sind 80 Prozent aus der EU, und davon kommen wiederum 90 Prozent über Dover.“Besonders bemühen sich Unternehme­n dem Vernehmen nach um haltbare Güter wie etwa Gewürze. Gavin Darby vom Lebensmitt­el hersteller verband meint :„ Die schlauen Betriebe wissen jetzt schon, was sie brauchen werden.“

Die Regierung soll für den Fall von Versorgung­sengpässen den Einsatz der Armee prüfen. Minister Raab dementiert­e entspreche­nde Berichte nicht, bezeichnet­e sie aber als „wenig hilfreich“. Der konservati­ve Abgeordnet­e und führende Anhänger eines weichen Brexit, Dominic Grieve, warnte, im Fall eines harten Brexit drohe ein „Ausnahmezu­stand“. Der ehemalige Premiermin­ister John Major sagte auf die Frage, ob es auch positive Seiten eines Verlassens der EU ohne Abkommen gebe: „So wie es möglich ist, dass die Erde eine Scheibe ist.“

Das Worst-Case-Szenario wird nach Berechnung­en des Internatio­nalen Währungsfo­nds Großbritan­nien einen Konjunktur­einbruch von vier Prozent bringen. Aber der harte Brexit wird auch für die EU teuer: Irland droht ein Minus in derselben Höhe, auch Nachbarsta­aten wie die Niederland­e oder Frankreich werden Einbußen erleiden. Das Dilemma wurde deutlich als der irische Regierungs­chef, Leo Varadkar, drohte, dass bei einem harten Brexit „keine Flugzeuge mehr fliegen“würden, worauf Londoner Regierungs­vertreter spöttisch anmerkten: „Die meisten irischen Flüge führen über britischen Luftraum.“

Gerade die Tragweite eines Brexit ohne Vereinbaru­ng veranlasst manche Beobachter, noch an ein Umdenken zu glauben: „Trotz aller Drohgebärd­en und Unsicherhe­iten bleibt ein harter Brexit die am wenigsten wünschensw­erte Option für beide Seiten und daher auch die unwahrsche­inlichste“, meint Simon Hix, Professor an der London School of Economics. Charles Grant, Direktor des Thinktanks Centre for European Reform, sagt: „Derzeit kann kein Mensch wissen, was geschehen wird.“

„Harter Austritt ist das Beste“

Zu jenen, die Vorbereitu­ngen für den Ernstfall treffen, gehört auch der Brexit-Hardliner Jacob ReesMoog. Der Tory-Politiker, der mit seinen fundamenta­listischen Positionen die Regierung unter Theresa May vor sich hertreibt, erklärte am Wochenende: „Ein harter Austritt ist das wahrschein­liche Szenario und auch das beste.“Zugleich legte das von ihm geleitete Investment­haus in Irland einen neuen Fonds auf, mit dem Restriktio­nen nach dem Ausscheide­n aus der Europäisch­en Union umgangen werden sollen.

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[ Reuters ] EU-Chefverhan­dler Michael Barnier schließt wegen der Differenze­n in London ein Worst-Case-Szenario nicht aus.

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