Galina, die Gewaltige: Ein unvergesslicher Konzertabend
Salzburger Festspiele. Die Konzertserie „Zeit mit Ustwolskaja“hat begonnen: Klangforum, Patricia Kopatchinskaja und nicht zuletzt Markus Hinterhäuser entfesselten die überwältigenden dunklen Kräfte in der Musik der russischen Komponistin.
Der Text ist das Vaterunser auf Russisch. Aber mit dieser Inbrunst, diesem bebenden Pathos vorgetragen, wie es die Komponistin Galina Ustwolskaja in ihrer fünften Symphonie, „Amen“, vom Sprecher verlangt, könnte es das Schluchzen eines Eingekerkerten sein, der längst keine Hoffnung mehr kennt, sondern nur noch den Jammer.
Evert Sooster rief aus der Tiefe, nein: vom Eingang aus in Richtung Altar, seine Worte hallten durch die Kollegienkirche – und fünf Solisten des Klangforums Wien, ein für Ustwolskaja typisch disparates Ensemble mit Oboe, Trompete, Tuba, Violine und Holzwürfel, gaben den langsamen Marschtritt vor: Kondukt und Klagelaut, ein Gang zum Richtplatz – gut passend als Prolog zu Dreyers Stummfilm „La Passion de Jeanne d’Arc“.
Ja, ein Holzwürfel: Ustwolskaja hat ihn genau beschrieben (aus Spanplatten soll er sein und 43 Zentimeter Seitenlänge haben) und in mehreren Stücken verlangt; trotzdem kam diesmal eine längliche Kiste zum Einsatz, vielleicht um dem Schlagzeuger für seine erbarmungslosen Hammerschläge eine größere Fläche zu bieten. Kein Wunder eigentlich, dass sich längere Zeit das Gerücht hielt, sie habe ursprünglich einen Sarg gewünscht und sei nur aus klanglichen Gründen davon abgerückt . . .
Chefsache für Markus Hinterhäuser
In kaum einer Musik kommen Leid und Leidenschaft mit so bezwingender Drastik in Einklang wie jener Ustwolskajas. Der Russin (1919–2006) gilt daher ein eigener Schwerpunkt bei der Ouverture spirituelle mit dem Motto „Passion“. Das wird in Salzburg klarerweise auch zur Chefsache: Immerhin setzt sich Markus Hinterhäuser als Pianist schon seit Jahrzehnten für ihr Schaffen ein – und diesem aus. In der Geigerin Patricia Kopatchinskaja, deren wunderlich eigensinniges Spiel ohnehin zu Ustwolskajas Einzelgänge- rinnentum passt, ist ihm längst eine nicht minder unerbittliche Partnerin zugewachsen, um der Komponistin im Mozarteum eine würdige Reverenz zu erweisen. Die ruhelose Sonate für Violine und Klavier wirkt wie die Flucht vor etwas, das einen als Idee´ fixe begleitet und immer wieder einholt: Da klopfen zuletzt Fingerknöchel unheimlich auf das Holz der Geige. Das „Duett“suggeriert durch diesen Titel zwei Individuen, Singstimmen gar, es regieren jedoch nicht Kantilenen, sondern viel öfter schrilles Hämmern, ein Kratzen wie von Fingernägeln, verzweifelte Morsezeichen. Es ist eines jener typischen Ustwolskaja-Stücke, die einen plötzlich am Kragen packen und dann durchschütteln – eine quälend lange und zugleich merkwürdig kurze Viertelstunde lang, meistens aber weniger. Dauer und Besetzungen spielen keine Rolle, alles an ihr ist groß.
Das gipfelte zuletzt in den berüchtigten Klaviersonaten aus den Jahren 1947 bis 1988, die Hinterhäuser ohne Pause – kann man noch sagen: spielte? Müsste es nicht heißen: durchmachte wie ein Büßer, abfeuerte wie ein Kanonier? Dass in dieser musikalischen Überwältigung Gewalt steckt, wurde sogar körperlich fühlbar. Bei ihm entwickelt diese gute Stunde als Ganzes die Wucht eines Meteoriteneinschlags, steckt aber zugleich voller Subtilität – und fördert erstaunliche Querverbindungen zutage. Man hört, wie sich in den ersten Sonaten aufsteigende Linien immer weiter verzweigen, bis sie in der dritten verworren werden. Ertönt da eine Art Vorecho des bohrenden Zentraltons Des aus der bereits manisch wirkenden fünften Sonate? In der grüblerischen, mäandernden vierten schon verliert sich das Streben nach oben. Und bei den drakonisch gedroschenen Clustern der sechsten Sonate kann einem nur mehr angst und bang werden: Da donnert alles nach unten, fährt hinab in die Grube. Die emotionalen Schockwellen, die das aussendet, wollen noch lange nach dem letzten Akkord nicht verebben: unvergesslich!