Die Presse

Rückblick auf das Paradies

Impulstanz. Die Kanadierin Marie Chouinard erzählt in ihrer neuen Choreograf­ie die Geschichte vom Sündenfall. Bezaubernd und ein bisschen traurig.

- VON BETTINA STEINER

Marie Chouinard ist in Wien keine Unbekannte. Seit Beginn des Festivals Impulstanz ist sie regelmäßig mit dabei, zeigte ihre empathisch­en und gewitzten Arbeiten über Hieronymus Bosch, über Versehrthe­it, Kontrollve­rlust und unsere Angst davor. Wenn sie nun heuer mit ihrer jüngsten Produktion wieder zu Gast ist, wird also möglicherw­eise der eine oder andere Besucher des Festivals ein Dej`´a-vu erleben: Das hat man doch von ihr schon einmal gesehen, irgendwie, wobei auch irgendwie nicht . . .

Die kanadische Choreograf­in hat für „Radical Vitality“erprobte, bis zu 40 Jahre alte Bilder, Schritte, Gesten, Szenen neu arrangiert und neu interpreti­ert, sie hält also Rückschau – und erzählt dabei doch eine Geschichte. Eine Geschichte, die in aller Unschuld beginnt: Mit einer entzückend ausstaffie­rten Carol Prieur – sie trägt unter anderem weiße Ohrenschüt­zer und Knöchelwär­mer aus Plüsch –, die uns mit einem goldenen Kügelchen einen kleinen Zaubertric­k vorführt. Dass der Trick darin besteht, die Kugel scheinbar in die Vagina einzuführe­n und dann aus dem Mund wieder hervorzuho­len, macht diese Szene nicht weniger unschuldig. Es ist die Naivität des Paradieses. Vor der Erkenntnis. Als die Vagina auch nur eine Körperöffn­ung war wie alle anderen.

Und darum pinkelt die als Sterntaler­mädchen im weißen Kittel gekleidete Catherine Dagenais-Savard auch ganz unschuldig in einen Kübel. Wenn sie gemeinsam mit Scott McCabe von Lichtfleck zu Lichtfleck hüpft, in kindlicher Freude darüber, dass dort die Ekstase zu finden ist, allein oder zu zweien, dann wünscht man sich ein bisschen, dass Sex wirklich so unkomplizi­ert sein könnte.

So bleibt das natürlich nicht. Ganz und gar nicht. Je länger der zweiteilig­e Abend, desto düsterer wird er. Und desto mehr Requisiten kommen zum Einsatz. Plötzlich sehen wir Kameras, seltsame Konstrukti­onen aus Metall, opulente Kostüme. In ihnen wirken die Tänzerinne­n zum Teil wie Figuren Kubins, Frauen zum Fürchten. Und wo vorher alles rein war, erscheint uns sogar der auf eine Leinwand projiziert­e Tanz eingeölter Hände seltsam obszön.

Der zweite Teil des Abends handelt von Nähe, die missglückt. Von komplizier­ten Beziehunge­n, Macht und Ohnmacht. Ein Mann, der sich nur auf Krücken fortbewege­n kann, himmelt die Ballerina an, die ihm gerne demonstrie­rt, was sie auf Spitzensch­uhen so alles anstellen kann. Bewundert er die Frau? Oder nur die Beweglichk­eit ihrer Beine? Sie jedenfalls lässt ihn irgendwann stehen. Seine Bewunderun­g interessie­rt sie nicht mehr.

Oder andersheru­m: Da steht der Mann auf einem Ziegelstei­n, das genügt ihm als Podest, und sie, mit Turnhose und zipfelnder Mütze mehr Mädchen als Frau, busselt

Marie Chouinards „Radical Vitality“ist noch heute, Donnerstag, und am Samstag im Volkstheat­er zu sehen. Außerdem kommen: Meg Stuart mit Solos und Duetten (Odeon, 31. Juli), Akemi Takeya mit „Tapped/Untapped“(Mumok, 1. August), Jan Fabre mit „The Generosity of the Orcas“(Odeon, 3. August) und Xavier Le Roy mit „Le sacre du printemps“(Museumsqua­rtier, 12. August). ihn, schleckt ihn ab, sie findet ihn so super. Er bleibt reglos, als könnte ihn nichts berühren. Erst als sie wegtanzt, entringt sich ein düsteres Ho, Ho, Ho seiner Brust.

Oft geht es um Macht bei Chouinard, um die Entdeckung, dass man über andere herrschen kann, auch das ein Sündenfall, wenn man so will. Da wird gekämpft und gerungen, einer zieht den anderen an einem unsichtbar­en Faden über die Bühne, der muss folgen, doch selbst wenn er folgt: Es schmerzt! Wie es schmerzt!

Der Abend endet mit einem Auftritt der gesamten Compagnie, alle mit riesigen Babymasken vor dem Gesicht, grotesk schaut das aus, diese Babyköpfe auf den Erwachsene­nkörpern, denen alles kindlich Runde, Weiche fehlt. Und bedrohlich wirkt es, als diese Babys näher kommen, Richtung Bühnenrand krabbeln, direkt auf uns zu.

Da mögen sie noch so süß grinsen.

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[ Impulstanz/Sylvie-Ann Pare´ ]

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