Wer Gott liebt, liebt auch die Welt
Ilja Ehrenburg und das dramatische Schicksal der chassidischen Volksbewegung im Osten Europas.
Der Gastkommentar „Die Revolte des Papst Franziskus“von Professor Gerhard Oberkofler (28.6.) stipuliert Analogien zwischen Chassidismus und Papst Franziskus, der von Franz von Assisi inspiriert ist. Oberkofler beruft sich auf „Visum der Zeit“, einer scharfsinnigen Schrift von Ilja Ehrenburg.
Auch Ehrenburg zieht diesen Vergleich und beschreibt einen kurzen Besuch am Hofe des Gerer Rebbe. Der Gerer Rebbe hatte eine Anhängerschaft (Chassidim – auf Hebräisch die „Frommen“) von mehr als 100.000 Menschen und kommt bei Ehrenburg schlecht weg. Dabei ist Ehrenburgs Kritik nur teilweise berechtigt.
Ein besonderes Verdienst von Gerer Rebbe war, dass er im Gegensatz zu vielen orthodoxen Autoritäten kein Antizionist war und seine Chassidim aufforderte, nach dem damaligen Palästina zu emigrieren. Sie entkamen dadurch der Mordmaschinerie der Nationalsozialisten. Es gibt daher auch heute in Israel Tausende Gerer Chassidim.
Ehrenburg ist sicherlich keine Autorität auf dem Gebiet des Chassidismus und des Judentums, seine Darstellungen sind daher mit Vorsicht zu genießen.
Der eigentliche und seriöseste Chronist der chassidischen Bewegung war Martin Buber. Er vermittelte den Westeuropäern diese wirkungsmächtige religiöse Bewegung des osteuropäischen Judentums. Geistesgeschichtlich ist die chassidische Bewegung die bedeutendste Schöpfung des Diaspora-Judentums.
Der Chassidismus ist eine Volksbewegung, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Galizien, Podolien, Wolhynien entstand. Ihr Gründer war Israel Ben Elieser, genannt BaalSchem-Tow („Herr des guten Namens“). Der Begriff „BaalSchem-Tow“bezeichnet einen Mann, dem das Volk vertraut und ein Mensch, der aus seiner innigen Beziehung zum Göttlichen mit seinen Mitmenschen und für sie lebt. Der Baal-SchemTow wirkte in einer großen und tiefen Glaubenskrise des damaligen Judentums.
Der Kosaken-Hetmann Bogdan Chmelnyzkij ( 1595-1657) erhob sich im 17. Jahrhundert gegen die polnische Magnatenherrschaft und er vernichtete Tausende jüdische Gemeinden. Mehr als Hunderttausend Juden wurden niedergemetzelt, Tausende wurden als Sklaven in die Türkei verkauft. Hoffnungslosigkeit und Erschütterung erfasste die Menschen – sie sahen keinen Ausweg.
Die rabbinischen Autoritäten hatten wenig Zugang zum notleidenden Volk. Sie lebten abgehoben und ohne Kenntnis der Probleme des einfachen Mannes.
Diese Situation bildet den Nährboden für das erfolgreiche Wirken des Baal-Schem-Tow, der den Menschen wieder Glaube, Mut, Hoffnung, Freude, Zuversicht und Lebenswillen gab.
Das religiöse Daseinsgefühl einer breiten Volksschicht wurde durch Israel Ben Elieser wiedererweckt. Seine Lehre war einfach und verständlich. Wenn man Gott liebt, liebt man die Welt – auch so, wie sie ist. Überall in der Natur, im Walde sind die göttlichen Funken der Schechina verborgen. Durch freudige Andacht und auch in allen körperlichen Funktionen, wenn sie auf Gott gerichtet sind, werden diese Funken aus dem Exil erlöst und tragen zur Verbesserung der Welt bei.
Die chassidische Lehre ist der Vollzug der Tat und soll zu einem Leben in Begeisterung und begeisterter Freude an Gott und der Welt führen. In Martin Bubers Werken wird Weisheit, Mysterium und Bedeutung des Chassidismus dargestellt. In Osteuropa lebten drei Millionen Chassidim. Die Mehrheit von ihnen wurde von den Nazis ermordet.