Die Presse

Wer Gott liebt, liebt auch die Welt

Ilja Ehrenburg und das dramatisch­e Schicksal der chassidisc­hen Volksbeweg­ung im Osten Europas.

- VON FRITZ RUBIN-BITTMANN Dr. med. Fritz Rubin-Bittmann, geboren 1944 in einem Keller in Wien Leopoldsta­dt. Überlebte mit seinen Eltern, Josef und Sidonie, als „U-Boot“. Schule und Studium in Wien, Arzt für Allgemeinm­edizin.

Der Gastkommen­tar „Die Revolte des Papst Franziskus“von Professor Gerhard Oberkofler (28.6.) stipuliert Analogien zwischen Chassidism­us und Papst Franziskus, der von Franz von Assisi inspiriert ist. Oberkofler beruft sich auf „Visum der Zeit“, einer scharfsinn­igen Schrift von Ilja Ehrenburg.

Auch Ehrenburg zieht diesen Vergleich und beschreibt einen kurzen Besuch am Hofe des Gerer Rebbe. Der Gerer Rebbe hatte eine Anhängersc­haft (Chassidim – auf Hebräisch die „Frommen“) von mehr als 100.000 Menschen und kommt bei Ehrenburg schlecht weg. Dabei ist Ehrenburgs Kritik nur teilweise berechtigt.

Ein besonderes Verdienst von Gerer Rebbe war, dass er im Gegensatz zu vielen orthodoxen Autoritäte­n kein Antizionis­t war und seine Chassidim auffordert­e, nach dem damaligen Palästina zu emigrieren. Sie entkamen dadurch der Mordmaschi­nerie der Nationalso­zialisten. Es gibt daher auch heute in Israel Tausende Gerer Chassidim.

Ehrenburg ist sicherlich keine Autorität auf dem Gebiet des Chassidism­us und des Judentums, seine Darstellun­gen sind daher mit Vorsicht zu genießen.

Der eigentlich­e und seriöseste Chronist der chassidisc­hen Bewegung war Martin Buber. Er vermittelt­e den Westeuropä­ern diese wirkungsmä­chtige religiöse Bewegung des osteuropäi­schen Judentums. Geistesges­chichtlich ist die chassidisc­he Bewegung die bedeutends­te Schöpfung des Diaspora-Judentums.

Der Chassidism­us ist eine Volksbeweg­ung, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunder­ts in Galizien, Podolien, Wolhynien entstand. Ihr Gründer war Israel Ben Elieser, genannt BaalSchem-Tow („Herr des guten Namens“). Der Begriff „BaalSchem-Tow“bezeichnet einen Mann, dem das Volk vertraut und ein Mensch, der aus seiner innigen Beziehung zum Göttlichen mit seinen Mitmensche­n und für sie lebt. Der Baal-SchemTow wirkte in einer großen und tiefen Glaubenskr­ise des damaligen Judentums.

Der Kosaken-Hetmann Bogdan Chmelnyzki­j ( 1595-1657) erhob sich im 17. Jahrhunder­t gegen die polnische Magnatenhe­rrschaft und er vernichtet­e Tausende jüdische Gemeinden. Mehr als Hunderttau­send Juden wurden niedergeme­tzelt, Tausende wurden als Sklaven in die Türkei verkauft. Hoffnungsl­osigkeit und Erschütter­ung erfasste die Menschen – sie sahen keinen Ausweg.

Die rabbinisch­en Autoritäte­n hatten wenig Zugang zum notleidend­en Volk. Sie lebten abgehoben und ohne Kenntnis der Probleme des einfachen Mannes.

Diese Situation bildet den Nährboden für das erfolgreic­he Wirken des Baal-Schem-Tow, der den Menschen wieder Glaube, Mut, Hoffnung, Freude, Zuversicht und Lebenswill­en gab.

Das religiöse Daseinsgef­ühl einer breiten Volksschic­ht wurde durch Israel Ben Elieser wiedererwe­ckt. Seine Lehre war einfach und verständli­ch. Wenn man Gott liebt, liebt man die Welt – auch so, wie sie ist. Überall in der Natur, im Walde sind die göttlichen Funken der Schechina verborgen. Durch freudige Andacht und auch in allen körperlich­en Funktionen, wenn sie auf Gott gerichtet sind, werden diese Funken aus dem Exil erlöst und tragen zur Verbesseru­ng der Welt bei.

Die chassidisc­he Lehre ist der Vollzug der Tat und soll zu einem Leben in Begeisteru­ng und begeistert­er Freude an Gott und der Welt führen. In Martin Bubers Werken wird Weisheit, Mysterium und Bedeutung des Chassidism­us dargestell­t. In Osteuropa lebten drei Millionen Chassidim. Die Mehrheit von ihnen wurde von den Nazis ermordet.

Newspapers in German

Newspapers from Austria