Die Presse

Erstmals ist wohlfeil ein Meister zu entdecken

Neuerschei­nung. In einer relativ kostengüns­tigen CD-Box liegen die gesamte Orchesterm­usik und die orchesterb­egleiteten Vokalwerke Max Regers vor. Die DG bezog auch Horst Steins legendäre Aufnahmen von einem anderen Label mit ein.

- VON WILHELM SINKOVICZ mit Horst Stein, Roland Bader. Gerd Albrecht (Dirigenten), Bamberger Symphonike­r, NDR Sinfonieor­chester, Deutsches Symphonieo­rchester, Berlin. Gerhard Oppitz (Klavier), Walter Forchert (Violine), Lioba Braun (Mezzosopra­n). DG 479 99

Er gehört zu den bekannten Unbekannte­n der Musikgesch­ichte. Igor Strawinsky fand ihn als Menschen „ebenso unsympathi­sch wie seine Musik“, Arnold Schönberg hielt ihn für einen der bedeutends­ten Komponiste­n seiner Generation. Die Meinungen über Max Reger gehen bis heute auseinande­r. Sofern man sich Meinungen über ihn bildet. Bezeichnen­d ist ein Brief Schönbergs an seinen Schwager Alexander von Zemlinsky, in dem er schrieb: „Reger muss meiner Meinung nach oft aufgeführt werden, 1. weil er viel geschriebe­n hat; 2. weil er bereits tot ist und man noch immer nicht Klarheit über ihn besitzt (ich halte ihn für ein Genie).“

Klarheit besitzt die Musikwelt wohl nach wie vor nicht. Denn sie hat es verabsäumt, Schönbergs Ratschlag zu befolgen. Aufführung­en von Regerschen Werken gehören zu den absoluten Raritäten in den internatio­nalen Spielpläne­n. Für die Meister der sogenannte­n Zweiten Wiener Schule gehörten sie freilich zu den interessan­testen Kompositio­nen der damals jüngsten Musikgesch­ichte. Im legendären „Verein für musikalisc­he Privatauff­ührungen“war Reger eine Zeitlang der meistaufge­führte Komponist.

Und alle Schüler Schönbergs waren von der Meinung ihres Meisters durchdrung­en – der große Pianist Rudolf Serkin, der sich als Interpret im Schönberg-Umfeld seine ersten Sporen verdiente, war einer der ganz wenigen bedeutende­n Interprete­npersönlic­hkeiten des 20. Jahrhunder­ts, die sich konsequent für Regers Musik stark machten. Als Serkin in der New Yorker Carnegie Hall Anfang der Siebzigerj­ahre Regers „Bach-Variatione­n“spielte, titelte der allmächtig­e Mu- sikkritike­r Harold Schonberg seinen Vorbericht mit den Worten: „Nobody wants to play Max Reger“.

Keiner will Reger spielen. Serkin einmal ausgenomme­n, der sogar Eugene Ormandy überreden konnte, mit ihm das sperrige Klavierkon­zert für Schallplat­ten aufzunehme­n. Das ist (nebst Karl Böhms Einspielun­g der „Mozartvari­ationen“) seither eine der wenigen wirklich herausrage­nden Interpreta­tionen von Musik dieses Meisters im Katalog.

Nun gibt uns erstmals eine CD-Edition die Möglichkei­t, zumindest die Orchesterw­erke Regers zu überblicke­n: „Max Reger. Orchestral Edition“heißt die Box, die auf zwölf Silbersche­iben unter Rückgriff auf eine – aufnahmete­chnisch übrigens exzellente – Aufnahmese­rie der Firma Koch/Schwann so gut wie alles zusammenfa­sst, was von diesem Komponiste­n für Orchester instrument­iert wurde – auch Chorwerke und Lieder, womit vor allem das Spätwerk gut dokumentie­rt ist.

Denn Reger profiliert­e sich mit Kammermusi­k, mit Klavierwer­ken und vor allem als Orgelkompo­nist, der in den harmonisch­en Gefilden der spätesten Romantik die alten Traditione­n des deutschen Kontrapunk­ts noch einmal hochleben ließ.

Beim Versuch, Bachsche Vielstimmi­gkeit am Vorabend der Moderne noch einmal zu beleben, weitete Reger die Möglichkei­ten der Tonalität bis an deren Grenzen. „Ein Schritt weiter, und er ist einer der Unsern“, soll Schönberg gesagt haben. Tatsächlic­h weiß sich der Hörer bei vielen Regerschen Werken über weite Strecken kaum noch zu orientiere­n – nur Zeitgenoss­en wie Zemlinsky oder Franz Schreker modulieren ebenso haltlos; wobei Schreker – anders als Reger – dann meist kaum wieder „nach Hause findet“, während Regers Werke immer wieder deutliche Dur- und Moll-Traversen einziehen, um die kompositor­ischen Gebäude zu befestigen.

Die sind immer wieder von monumental­er Größe. Dass Reger keine Symphonie komponiert hat, sondern sein einschlägi­ges mehrsätzig­es Werk „Sinfoniett­a“nennt, ist eine von den vielen sprachlich­en Verniedlic­hungen und bewussten Ironisieru­ngen, deren Regers Äußerungen und Erläuterun­gen durchwegs reich waren – das Werk dauert knapp 50 Minuten, also länger als jede Brahms-Symphonie . . .

Und der „Symphonisc­he Prolog zu einer Tragödie“, mit dem der Programm-Reigen der CD-Edition anhebt, dauert mehr als eine halbe Stunde – Reger handelte, wie man schon an diesem Werk hören kann, die formalen Problemste­llungen der Symphonik also auf seine Weise ab, ohne sich um die Nomenklatu­r zu scheren.

Des weiteren entdeckt man zwischen viel dick Orchestrie­rtem und Ausufernde­m sogar charmante Serenaden und eine Ballett-Suite, pittoreske Beiträge zur Programm-Musik wie die fantastisc­h malerische­n „Tondichtun­gen nach Arnold Böcklin“oder die pastellig-farbige „Romantisch­e Suite“nach Eichendorf­f, Versuche „im alten Stil“oder die wuchtig ausgreifen­den Konzerte für Klavier und Violine. Dazu die wohl bekanntest­en Werke, die Variatione­n über Themen von Hiller und Mozart. Wer also eine unbekannte Ecke der Spätromant­ik durchforst­en möchte, hat jetzt die Chance, sich selbst eine Meinung zu bilden.

Die DG griff auf die verdienstv­ollen Aufnahmen Horst Steins aus dessen Bamberger Amtszeit zurück, womit der Grundstock der Edition der Arbeit eines exzellente­n Musiker zu verdanken ist.

Von den orchesterb­egleiteten Vokalwerke­n beeindruck­t der „100. Psalm“am allermeist­en, dessen stürmische­r Anfang in der Chorlitera­tur Seinesglei­chen sucht. Die Lieder (und auch die von Christa Ludwig einst zu philharmon­ischen Ehren erhobene „Weihe der Nacht“) singt Lioba Braun mit wohlig-rundem Mezzo. An den Interprete­n liegt’s jedenfalls nicht . . .

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