Die Presse

Polnischer Jazzmelanc­holiker ohne Sentimenta­lität

Jazztrompe­ter Tomasz Stanko´ ist 76-jährig gestorben.

- VON SAMIR H. KÖCK

Die Homepage von ECM, dem langjährig­en Label von Tomasz Stan´ko, zeigt heute ein Schwarz-WeißBild eines nördlichen Meeres. Wellen brechen unter regenschwe­ren Himmeln, lichte Schaumkron­en erhellen kurz das Grau von Luft und Wasser. Dieses Bild diente 1997 als Cover von „Litania“, jenem Album, das Stan´ko ganz besonders liebte. Es war seine Hommage an seinen polnischen Landsmann, den Jazz- und Filmkompon­isten Krzysztof Komeda.

Schon im Dezember 1965 spielte der junge Stan´ko mit Komeda „Astigmatic“, ein, das wohl schönste Album des polnischen Jazz. Das zeitlose Flair dieser Aufnahmen liegt in der eleganten Dekonstruk­tion slawischer Melodiebög­en. 32 Jahre später griff Stan´ko diese Frühphase seiner Karriere nochmals auf: „Litania“, also Litanei, war nicht der idealste Titel für diese einzige Reminiszen­z, die sich Stan´ko in seiner langen Karriere gestattet hat. Trotz des Eintönigke­it vorspiegel­nden Titels verklang Stan´kos melancholi­scher Trompetent­on niemals in Ödnis.

Auch in wilderen Aufnahmen lotete er die Grenzen menschlich­er Erfahrungs­möglichkei­ten aus, etwa mit dem finnischen Schlagzeug­er Edward Vesala. Nebenprodu­kt dieser turbulente­n Phase waren damals schon in sich gekehrte Stücke wie „Balladyna“, denen Stan´kos späteres Markenzeic­hen, der „predatory lyricism“, schon anzuhören ist: Rücksichtl­os zog er seine Hörer in ein Netz aus Melancholi­e, Elegie und zarter Hoffnung.

2004 stellte Stan´ko auf Zuruf von ECM-Boss Manfred Eicher unter dem Motto „Rarum“eine Kompilatio­n aus seinem Werk zusammen. Darauf ist das mit sanftesten Mitteln in die Eingeweide fahrende, deutsch betitelte „Die Weisheit von La comte Lautreamon­t“,´ für das Stan´ko „Die Gesänge des Maldoror“, das einzige Werk des französisc­hen Dichters Lautreamon­t,´ studiert hatte. Das Ineinander­fließen von Verzweiflu­ng und Zuversicht, das dieses Buch treibt, war Grundeleme­nt seiner Musik. Auch im Booklet von „Rarum“zitierte er Lautreamon­t:´ „Ich ersetze die Schwermut durch den Mut, den Zweifel durch die Gewissheit, die Verzweiflu­ng durch die Hoffnung, die Bosheit durch das Gute, die Klagen durch die Pflicht, die Skepsis durch den Glauben, die Sophismen durch kühlen Gleichmut und den Hochmut durch die Bescheiden­heit.“Das klang damals schon wie die Bilanz seines Lebens. Nun ist dieser Große des europäisch­en Jazz mit 76 Jahren gestorben.

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