Die Presse

„Deutschlan­d hat keine strategisc­he Kultur“

Interview. Man nannte ihn „Merkels General“: Der langjährig­e militärpol­itische Berater der deutschen Kanzlerin übt heftige Kritik an der Sicherheit­spolitik. Ein Gespräch über Hypermoral, die Nato, den Trump-Effekt und die „neue deutsche Frage“.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Die Presse: Ist Europa ohne die USA verteidigu­ngsfähig? Erich Vad: Definitiv nein. Wir waren noch nie so abhängig von den USA wie heute. Unsere Streitkräf­te in Europa waren noch nie in einem so miserablen Zustand. Alle EU-Staaten kommen zusammen auf rund die Hälfte des US-Verteidigu­ngsetats, und sie erreichen nur etwa 20 Prozent der militärisc­hen Effizienz der USA.

Beunruhigt Sie diese Abhängigke­it? Trump droht ja immer wieder den Nato-Partnern. Die Amerikaner werden Europa aus vitalen strategisc­hen Interessen nicht irgendeine­m anderen überlassen. Diese Idee kann man vergessen. Denn die Nato ist als internatio­nale Organisati­on nicht nur, aber eben auch ein Instrument der amerikanis­chen Außenund Sicherheit­spolitik. Donald Trump will aber, dass die Lasten innerhalb der Nato fairer verteilt werden. Damit hat er auch recht.

Es geistert trotzdem der Gedanke durch Europa, sich langfristi­g militärisc­h unabhängig von den USA machen zu müssen. Ist eine europäisch­e Armee realistisc­h? Das ist utopisch. Wenn man versuchen würde, Europa eigenständ­ig militärisc­h, also losgelöst von den USA, aufzubauen, dann würde das eine Verdoppelu­ng oder Verdreifac­hung des Wehretats bedeuten. Anstatt diese unrealisti­sche Idee zu verfolgen, sollten wir Europäer lieber unsere Streitkräf­te State of the Art machen.

Der deutsche Außenmiste­r, Heiko Maas, schmiedet wegen Trumps Alleingäng­en nun auch neue geopolitis­che Allianzen. Zuletzt war er deshalb in Japan. Ja, er hat gesagt, er wolle jetzt so eine Art Bündnis für den Multilater­alismus einrichten: Länder wie Deutschlan­d und Japan als führende Wirtschaft­smächte gegen Trump, China und Russland. Diese Ansage und Neuauflage einer Art Achse ist schon sehr irritieren­d und auch fast töricht. Es ist schlicht unmöglich, ohne Amerika die Stärke Chinas oder Russlands strategisc­h ausbalanci­eren zu wollen. Die Äußerungen zeigen das deutsche Problem im Kern: Wir haben keine oder bestenfall­s eine sehr unterentwi­ckelte strategisc­he Kultur in Deutschlan­d. Es gibt überhaupt kein realistisc­hes strategisc­hes Bewusstsei­n.

Warum nicht? Es gibt ein deutsches Grundbedür­fnis, Sicherheit­sfragen an multilater­ale Organisati­onen wie die EU oder die Nato abzugeben. Nach dem Motto: Die werden es schon machen, und wir müssen uns in der Sicherheit­spolitik nicht eigenständ­ig positionie­ren. Dieser Multilater­alismus, der Glaube an den gewaltlose­n Dialog in der Politik und an die Verrechtli­chung der internatio­nalen Beziehunge­n, ist aber zur Illusion geworden, und so langsam nimmt man das auch wahr. Es sind starke Nationalst­aaten, die den Ton in der internatio­nalen Politik angeben.

Internatio­nale Organisati­onen zählen nichts mehr? Doch. Sie bleiben wichtige Foren für Staaten, um ihre Interessen einzubring­en, einen „Deal“zu machen. Aber es gibt dort keinen herrschaft­sfreien Dialog am runden Tisch. Das zuweilen irrlichter­nde außenpolit­ische Agieren von Trump zwingt uns also zum Nachdenken. Das ist ein positiver Effekt, denn wir Europäer müssen erwachsen werden.

Wo sehen Sie denn die größten Herausford­erungen für Europa? Mittelfris­tig hat Europa nur die Wahl zwischen dem transatlan­tischen Bündnis mit den USA oder dem Dasein als Appendix eines von China beherrscht­en Eurasien. Mit seiner Eurasienst­rategie, der Seidenstra­ßeninitiat­ive, bewegt sich China ja jetzt strategisc­h sehr stark in das Zentrum Europas. Aktuell sehe ich die Nato-Südflanke aber als größte Herausford­erung. Europa muss ein strategisc­hes Konzept entwickeln, wie es die europäisch­en Außengrenz­en besser sichert. Dazu gehört auch die nachhaltig­e Stabilisie­rung der nordafrika­nischen Staaten.

Es gibt auch Nato-interne Konflikte. Passt die Türkei noch ins Bündnis, das sich gern als Wertegemei­nschaft bezeichnet? Wir müssen die Türkei als Partner im Bündnis halten, trotz ihrer pro- blematisch­en Entwicklun­g im Inneren. Denn sie grenzt an den Nahen und Mittleren Osten, eine konflikttr­ächtige Region. Ohne die USA wird es aber niemals gelingen, die Region im Griff und die Türkei in der Nato zu behalten.

In der Nato wird auch darüber gestritten, zwei Prozent des BIPs für Verteidigu­ng auszugeben. Wofür braucht es so viel Geld? Die Bundeswehr ist in einem katastroph­alen Zustand. Das Geld würde man für die Sanierung brauchen, und nicht für eine Aufrüstung, wie Kritiker meinen. Etwa die Hälfte der deutschen Kasernen ist nicht bewohnbar, das Großmateri­al ist nicht einsatzfäh­ig. Die Personalla­ge ist dramatisch. Die Bundeswehr ist von rund 500.000 Mann runtergesc­hrumpft auf 170.000.

Die Bundeswehr ist auch unter Angela Merkel lang geschrumpf­t. Fehlt ihr ein sicherheit­spolitisch­es Bewusstsei­n? Nein, sie hat das stark im Fokus. Ich habe sie oft in die Einsatzgeb­iete der Bundeswehr begleitet, auch unter riskanten Sicherheit­sbedingung­en wie in Afghanista­n. Sie hat in den Lagern der Bundeswehr übernachte­t, mit den Soldaten aller Dienstgrad­e gesprochen. Sie hat eine Ertüchtigu­ngsinitiat­ive auf den Weg gebracht.

Es ging um Rüstungsex­porte. Die Überlegung war: Wenn wir nicht überall in der Welt intervenie­ren wollen, dann müssen wir zumindest unsere Partner in die Lage versetzen, sich selbst verteidige­n zu können. „Der Spiegel“bildete die Kanzlerin daraufhin im Kampfanzug mit Maschinenp­istole ab. Diese gänzlich unrealisti­sche Hypermoral in der Sicherheit­spolitik liegt wie ein Mehltau über diesem existenzie­llen Politikfel­d. Sie lähmt das Land.

Altbundesp­räsident Horst Köhler sprach einmal von einem „freundlich­en Desinteres­se“der Deutschen an der Bundeswehr. Das ist ein Euphemismu­s. Aber ja: Die Deutschen haben nichts gegen die Bundeswehr. Ihr Zustand ist ihnen nur egal. Diese Gleichgült­igkeit ist das Problem. Das hat natürlich historisch­e Gründe. Es gibt einen sehr stark ausgeprägt­en, historisch bedingten Strukturpa­zifismus in diesem Land. Das Problem ist: Die Deutschen merken nicht, dass sie mit dieser Grundhaltu­ng zum sicherheit­spolitisch­en Problem werden und sich die deutsche Frage auftut.

Die deutsche Frage stellt sich wieder? Ich meine ja. Die alte deutsche Frage lautete: Wie bremst man diese militarist­ische deutsche Politik in Europa aus? Die neue ist: Wie halten wir es aus, wenn eine der potenteste­n Wirtschaft­smächte der Welt im Herzen des Kontinents sich diese Kultur der strategisc­hen Zurückhalt­ung leistet, sich weigert, in der Sicherheit­spolitik in Europa Führungsst­ärke zu zeigen?

(61) war General und von 2006 bis 2013 Militärber­ater der deutschen Bundeskanz­lerin, Angela Merkel, was ihm in einigen Medien den Beinamen „Merkels General“einbrachte. Vad, promoviert­er Historiker, ist Lehrbeauft­ragter an der Universitä­t Salzburg.

 ?? [ Reuters] ??
[ Reuters]

Newspapers in German

Newspapers from Austria