Der Altmeister der Theaterprovokation
Salzburg. Hans Neuenfels, der „Vater des Regietheaters“, inszeniert heuer Tschaikowskys „Pique Dame“. Bei den Festspielen hat der Regisseur nicht zuletzt mit seiner „Fledermaus“-Adaption zum Ausklang der Ära Mortier für Aufsehen gesorgt.
Seine „Aida“-Inszenierung in Frankfurt, 1981, wird schon in der theaterwissenschaftlichen Literatur als „berühmtberüchtigt“und als „Gründungsakt des Regietheaters“bezeichnet. Hans Neuenfels ist also der Gründervater eines viel geschmähten, aber auch über den grünen Klee gelobten Phänomens, das manchen Intendanten, angefeuert vom deutschen Feuilleton und dessen heimischen Ablegern, als eine Art Zukunftssicherung des (Musik-)Theaters gilt.
Hans Neuenfels war der Erste der Heilsbringer dieser Ideologie. Zuletzt ließ er den Bayreuther „Lohengrin“unter Ratten spielen, was zunächst für Unmut und Proteste sorgte, im letzten Jahr der Produktion dann aber – wie einst der legendäre „Chereau-´ Ring“– als „kultig“qualifiziert wurde.
Aber man kann es sich mit der Bewertung von Neuenfels’ Arbeit so leicht nicht machen. Gewiss, hierzulande sitzen Musikfreunden noch die Nachwehen mancher Neuenfels-Produktion in den Knochen, die Verballhornung von Giacomo Meyerbeers „Prophet“zum Beispiel, die 1998 eine wichtige Bringschuld der Staatsoper zunichtegemacht hat; immerhin waren Meyerbeers Opern im Zuge des „Anschlusses“von den Spielplänen verschwunden. So konnten sie – Placido´ Domingo hin oder her – freilich auch nicht wiederkehren.
Der Johann-Strauß-Skandal von 2001
Vor allem aber erinnert man sich der Salzburger Festspiel-„Fledermaus“zum Ausklang der Ära Gerard Mortiers. Nichts vom Gang der Operettenhandlung war in der Felsenreitschule mehr zu erkennen. Ein Besucher klagte. Das Gericht bewahrte die Festspiele vor Rückzahlungen der Eintrittspreise: Entstellungen fielen auch in solch massivem Ausmaß in den Rahmen der „künstlerischen Freiheit“. Dass immerhin die Musik halbwegs so gespielt wurde, wie sie in der Partitur steht, genügte von Rechts wegen, um nicht „frei nach Johann Strauß“auf den Theaterzettel schreiben zu müssen.
Es gibt aber noch den anderen Hans Neuenfels, einen Regisseur, der atemberaubend dichte Aufführungen zustande bringt. Mit derselben Kunstfertigkeit, mit der er wütende Proteste heraufzubeschwören versteht, kann dieser Theatermagier sein Publikum auch fesseln.
Nicht nur, aber natürlich auch, wenn es um surrealistische Stücke geht, etwa Roger Vitracs „Victor oder Die Kinder an der Macht“. Die Premiere wurde 1977 im Akade- mietheater dank des lustvollen Engagements von Klaus Maria Brandauer und Erika Pluhar zum Sensationserfolg. Die wunderbare Gusti Wolf bewies damals in der Rolle der Ida Totemar, wie man fortwährende Verdauungsschwierigkeiten virtuos auf der Bühne zelebrieren kann, und meinte während des Schlussbeifalls: „Ich glaube, das Publikum hätte am liebsten mitgefurzt.“
Surreale Schauspielerabsagen
Dabei waren auch diesmal die Unbilden während der Probenarbeit nicht ausgeblieben. Ein Schauspieler nach dem andern sagte ab – wie sich der Regisseur erinnert, „mit den fantasiereichsten Begründungen, die weitaus surrealer waren als der Stücktext“.
Exzellent – und anders als beim „Propheten“wirklich förderlich für ein Stück, dessen Ehrenrettung anstand – geriet 1997 die Volksoper-Inszenierung von Alexander von Zemlinskys „König Kandaules“. Hier war nicht nur Regiehandwerk gefragt, weil es auch darum ging, Figuren verschwinden und wieder auftauchen zu lassen. Sondern auch eine Königin sollte nackt vor einem armen Fischer erscheinen – und man lernte: Der präzise arbeitende Theaterpraktiker kann, wenn’s drauf ankommt, auch geradezu dezent agieren. Wenn er will.
Oft will er nicht und löckt bewusst gegen den Stachel. Und wenn das Publikum beim besten Willen keinen ästhetisch-intellektuellen Gewinn aus der Sache ziehen kann, werden die Dramaturgen im Programmheft, die Feuilletonisten in Funk und Printmedien aktiv. Sie üben sich in Exegese.
Selbige wird notwendig, wenn etwa am Ende von Neuenfels’ „Nabucco“-Produktion in Berlin die Israeliten nicht in die Freiheit ziehen, sondern mit dem babylonischen König sterben. „Ein geschichtliches Ereignis des 20. Jahrhunderts durchkreuzt ein Kunstwerk eines anderen Jahrhunderts“, lautete die Erläuterung der Dramaturgin. Wer wagt’s heutzutage, gegen solch humanistisch motivierte Verfälschung zu protestieren?
Wobei sich der Unmut des Publikums weniger an dieser Verkehrung des Inhalts entlud, sondern an inszenatorischen Details wie jenem, dass während der Arie der Abigail die babylonischen Priester plötzlich als Bienenschwarm erschienen und im Rhythmus der Koloraturen mit ihren Bienenhinterteilen zu wackeln begannen. Die deutsche Kritik wusste zu deuten: Verdis Koloraturen würden dadurch als „floskelhaft“und „bloßes Ornament desavouiert“.
Da schwinden sie hin, Jahrzehnte der italienischen Belcanto-Ästhetik, deren späte Blüte beim frühen Verdi auf diese Weise zu Makulatur erklärt werden.
Große Komponisten darf man ungestraft vom Podest stoßen. Nicht so Religionsstifter. Jedenfalls nicht alle.
Nichts gegen Mohammed!
2006 drohte es Neuenfels’ wegen einmal gefährlich zu werden: Sein Berliner „Idomeneo“wurde vom Spielplan abgesetzt, weil der Titelheld sich zuletzt durch Köpfen von Götter- und Prophetenstatuen von allen religiösen Bindungen „befreit“. Das löste Befürchtungen aus, die Aufführungen könnten zu Tumulten führen, nicht nur im, sondern auch außerhalb des Theaters. Eine der geköpften Figuren zeigte nämlich Mohammed!
Interessant, dass sich damals die Kommentatoren in solchem Zusammenhang noch um die Freiheit der Kunst sorgten. Sie sprachen, als die Produktion abgesetzt wurde, von „Dammbruch“und „vorauseilendem Gehorsam“. Der „Spiegel“fragte gar: „Sind wir zu Opfern bereit, um unsere Kultur zu verteidigen?“Zwölf Jahre später fragt man sich: Was galt, was gilt in dieser Causa als verteidigenswert? Mozart war’s wohl nicht.
Immerhin ließe sich behaupten: Solche Querelen angezündet zu haben sei eine bemerkenswerte Leistung. An solchen Leistungen ist die künstlerische Bilanz des Hans Neuenfels jedenfalls nicht arm.
Das Libretto wurde wie allgemein üblich – und oft bei Verdi – als idiotisch bezeichnet, was mir aber nicht nur keine Angst machte, sondern mich beflügelte.
Hans Neuenfels über seine Vorbereitungszeit für die Frankfurter Produktion des „Trovatore“.