Fehlerhafter Klassenbucheintrag
Die von der Außenministerin behauptete mangelhafte Ministeranwesenheit in EU-Gremien ist falsch.
Anfang Juli stellt die österreichische Außenministerin, Karin Kneissl, in gewohnter Oberlehrerinnenmanier lapidar fest, dass kaum noch Minister zu den EU-Räten kämen. Messerscharf analysierte sie das als Zeichen eines grassierenden Desinteresses in Europas Hauptstädten am europäischen Einigungsprozess.
Diese Aussage hält einem Realitätscheck nicht stand.
In Kneissls „eigenem“EUMinisterrat – dem Rat für auswärtige Angelegenheiten – ist das Bild eindeutig. Während des ersten Halbjahrs 2018 (also quasi ihrer bisherigen Amtszeit) betrug die Präsenz von Regierungsmitgliedern aus den 28 Mitgliedsländern mehr als 89 Prozent. Kneissls eigene Anwesenheit lag knapp darunter.
Im Vergleich zum ersten Halbjahr des Jahres 2017 stieg heuer sogar die korrekte und somit stimmberechtigte Anwesenheit von Regierungsmitgliedern im EU-Außenministerrat; damals lag sie nämlich unter 86 Prozent und der zuständige österreichische Außenminister brachte es auf knapp mehr als 70 Prozent Anwesenheit.
Selbst in der weniger beliebten Sonderformation „Entwicklung“steigerte sich die Anwesenheit von 68 Prozent auf heuer mehr als 78 Prozent. Wobei Österreich seiner langjährigen Tradition treu blieb und wieder kein Regierungsmitglied nach Brüssel schickte, um die für die innenpolitisch prioritäre Fluchtursachenbekämpfung so wichtige europäische Entwicklungspolitik mitzudiskutieren.
Bis zur türkis-blauen Kompetenzverschiebung in EU-Belangen fiel noch ein weiterer EU-Ministerrat, der Rat Allgemeine Angelegenheiten, in die Zuständigkeit des österreichischen Außenministeriums. Diese Formation stellt den Maschinenraum der Europäischen Union dar, hier werden alle wichtigen Politikfelder koordiniert und für den Eu- ropäischen Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, vor- und nachbereitet.
Ob es das EU-Mehrjahresbudget, die Erweiterung oder die Verteilung der milliardenschweren Regionalgelder betrifft: Immer ist es der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“, der entscheidet und die Weichen stellt. 2016 hat der damalige Außenminister, Sebastian Kurz, nur zu 22 Prozent an diesen Sitzungen teilgenommen. Der Durchschnitt der EU-28, also aller Mitgliedstaaten, lag im Vergleich dazu bei rund 80 Prozent Ministeranwesenheit. Im ersten Halbjahr 2017 betrug die Präsenz der EU-28 74 Prozent, wobei die Anwesenheit von Kurz auf null(!) Prozent sank.
Im ersten Halbjahr des heurigen Jahres – nach dem Transfer der Zuständigkeit aus dem Außenministerium ins Kanzleramt – beträgt die Anwesenheit von Regierungsmitgliedern aller EU-Staaten 79 Prozent. Der für Österreich neu zuständige Minister Gernot Blümel schaffte gar mehr als 83 Prozent Anwesenheit.
Die Überprüfung der Anwesenheit von Regierungsmitgliedern aus den EU-Mitgliedstaaten in den diversen EU-Ministerräten (Landwirtschaft, Innen und Justiz, Verkehr, Technologie und Energie etc.) ließe sich fortsetzen und würde das immer gleiche Bild zeigen: Die Teilnahme und Präsenz verändern sich kaum.
Was bewog nun aber die österreichische Außenministerin dazu, eine offensichtliche Falschbehauptung in die Welt zu setzen? Bewusste Fake News, um in den Medien wieder einmal Beachtung zu finden?
Vielleicht würde aber auch einfach ein Sprachauffrischungskurs helfen, damit Karin Kneissl wieder erkennt, dass der aus London anreisende Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs ein durchaus ebenbürtiger „Minister“und gar kein „Sekretär“ist.