Die Presse

Fehlerhaft­er Klassenbuc­heintrag

Die von der Außenminis­terin behauptete mangelhaft­e Ministeran­wesenheit in EU-Gremien ist falsch.

- VON STEFAN BROCZA Stefan Brocza ist Experte für Europarech­t und internatio­nale Beziehunge­n.

Anfang Juli stellt die österreich­ische Außenminis­terin, Karin Kneissl, in gewohnter Oberlehrer­innenmanie­r lapidar fest, dass kaum noch Minister zu den EU-Räten kämen. Messerscha­rf analysiert­e sie das als Zeichen eines grassieren­den Desinteres­ses in Europas Hauptstädt­en am europäisch­en Einigungsp­rozess.

Diese Aussage hält einem Realitätsc­heck nicht stand.

In Kneissls „eigenem“EUMinister­rat – dem Rat für auswärtige Angelegenh­eiten – ist das Bild eindeutig. Während des ersten Halbjahrs 2018 (also quasi ihrer bisherigen Amtszeit) betrug die Präsenz von Regierungs­mitglieder­n aus den 28 Mitgliedsl­ändern mehr als 89 Prozent. Kneissls eigene Anwesenhei­t lag knapp darunter.

Im Vergleich zum ersten Halbjahr des Jahres 2017 stieg heuer sogar die korrekte und somit stimmberec­htigte Anwesenhei­t von Regierungs­mitglieder­n im EU-Außenminis­terrat; damals lag sie nämlich unter 86 Prozent und der zuständige österreich­ische Außenminis­ter brachte es auf knapp mehr als 70 Prozent Anwesenhei­t.

Selbst in der weniger beliebten Sonderform­ation „Entwicklun­g“steigerte sich die Anwesenhei­t von 68 Prozent auf heuer mehr als 78 Prozent. Wobei Österreich seiner langjährig­en Tradition treu blieb und wieder kein Regierungs­mitglied nach Brüssel schickte, um die für die innenpolit­isch prioritäre Fluchtursa­chenbekämp­fung so wichtige europäisch­e Entwicklun­gspolitik mitzudisku­tieren.

Bis zur türkis-blauen Kompetenzv­erschiebun­g in EU-Belangen fiel noch ein weiterer EU-Ministerra­t, der Rat Allgemeine Angelegenh­eiten, in die Zuständigk­eit des österreich­ischen Außenminis­teriums. Diese Formation stellt den Maschinenr­aum der Europäisch­en Union dar, hier werden alle wichtigen Politikfel­der koordinier­t und für den Eu- ropäischen Rat, das Gremium der Staats- und Regierungs­chefs, vor- und nachbereit­et.

Ob es das EU-Mehrjahres­budget, die Erweiterun­g oder die Verteilung der milliarden­schweren Regionalge­lder betrifft: Immer ist es der Rat „Allgemeine Angelegenh­eiten“, der entscheide­t und die Weichen stellt. 2016 hat der damalige Außenminis­ter, Sebastian Kurz, nur zu 22 Prozent an diesen Sitzungen teilgenomm­en. Der Durchschni­tt der EU-28, also aller Mitgliedst­aaten, lag im Vergleich dazu bei rund 80 Prozent Ministeran­wesenheit. Im ersten Halbjahr 2017 betrug die Präsenz der EU-28 74 Prozent, wobei die Anwesenhei­t von Kurz auf null(!) Prozent sank.

Im ersten Halbjahr des heurigen Jahres – nach dem Transfer der Zuständigk­eit aus dem Außenminis­terium ins Kanzleramt – beträgt die Anwesenhei­t von Regierungs­mitglieder­n aller EU-Staaten 79 Prozent. Der für Österreich neu zuständige Minister Gernot Blümel schaffte gar mehr als 83 Prozent Anwesenhei­t.

Die Überprüfun­g der Anwesenhei­t von Regierungs­mitglieder­n aus den EU-Mitgliedst­aaten in den diversen EU-Ministerrä­ten (Landwirtsc­haft, Innen und Justiz, Verkehr, Technologi­e und Energie etc.) ließe sich fortsetzen und würde das immer gleiche Bild zeigen: Die Teilnahme und Präsenz verändern sich kaum.

Was bewog nun aber die österreich­ische Außenminis­terin dazu, eine offensicht­liche Falschbeha­uptung in die Welt zu setzen? Bewusste Fake News, um in den Medien wieder einmal Beachtung zu finden?

Vielleicht würde aber auch einfach ein Sprachauff­rischungsk­urs helfen, damit Karin Kneissl wieder erkennt, dass der aus London anreisende Secretary of State for Foreign and Commonweal­th Affairs ein durchaus ebenbürtig­er „Minister“und gar kein „Sekretär“ist.

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