Die Rückkehr der Gemütlichkeit
Kreta I. Ein Lob der langen Nachsaison: Auf der Tourismusinsel stehen Tische noch vor den Tavernen, wenn andere ihre Gastgärten schon geräumt haben.
Kreta in der Hauptsaison: ein Selbstläufer. Interessant ist die Insel auch in der Nachoder der Vorsaison, vielleicht sogar noch mehr. Zu einem Zeitpunkt, wenn man aus der Kühle kommend die Jacke wieder in die Tasche stopft und augenkneifend darin nach der Sonnenbrille kramt. Die Lage im tiefsten Süden des europäischen Kontinents macht Kreta zum sonnigsten Reiseziel im Mittelmeer. Landet man in der Hauptstadt, Heraklion, gibt es ganz unterschiedliche Regionen in den vier Himmelsrichtungen zu entdecken. Die Nordküste ist mit Dutzenden Resortanlagen touristisch am dichtesten erschlossen, der Süden gilt bei abenteuerfreudigen und bei ruhesuchenden Individualreisenden als erste Wahl, doch viel weniger bekannt ist: Im Osten liegt die größte Bucht und im Westen der bestimmt schönste Strand Griechenlands. Aber halt, davon wird später geschwärmt.
Zunächst geht’s nach Osten. Links zieht sich der Golf von Heraklion, und keine fünf Kilometer vom Stadtrand trifft man schon auf Knossos, den Inbegriff eines minoischen Palasts. Doch die ebenso nominierten Unesco-WelterbeStätten, die Paläste von Kato Zakros, Phaistos und Malia sind genauso sehenswert. Für Kato Zakros fährt man durch bis in den äußersten Osten. Hier erstreckt sich die Stätte direkt am Meer. Der Palast, erstmals 1900 v. Chr. angelegt, bestand aus über 300 Räumlichkeiten, Säulengängen, Altaren und Archiven, die tönerne Tafeln mit Linear-A-Schriften enthielten – eine der beiden Schriftsysteme aus der minoischen Zeit Kretas. Wandelt man entlang der antiken Fragmente, werden die große Kultur und ihr König lebendig: Minos – der sagenhafte König von Kreta. Der berühmten „Parischen Chronik“folgend soll Minos in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts v. Chr. gelebt haben. Er habe die Karer von den Kykladen ver- trieben, die Piraterie bekämpft und großen Wohlstand in seine Heimat gebracht, heißt es. Antikes Öl, reife Orangen
Manche sagen, der Reichtum sei auf Kreta noch gewachsen und würde sich vor allem im nahen Elounda zeigen: in der höchsten Dichte an Fünfsternehotels großer Hotelketten, die sich in der Bucht von Mirabello angesiedelt haben, der größten Bucht Griechenlands. Ein Blick auf das fotogene einmalige Blau des Golfs von Mirabello öffnet sich am Hang oberhalb von Agios Nikolaos. Die kleine Stadt hat eine Prachtlage mit einem mittig liegenden See, dem Voulismeni, und ist wie gemacht zum Schauen, Bummeln, Kaffeetrinken. Auf der Promenade genießen Urlauber einen Nescafe-´Frappe,´ bevor sie in das minoische Zeitalter des zweiten Palasts eintauchen: Malia.
Der gleichnamige Ort ist nach einer halben Autostunde erreicht. In Malia sind die Ausgrabungen noch im Gange, können aber besichtigt werden. Über den antiken Fragmenten wölben sich offene Dächer auf Stahlstützen. Orangeocker liegen massive Quader auf dem Erdreich, und mannshohe Amphoren dokumentieren das frühe Aufbewahren von Olivenöl. Bohlenwege führen hindurch und bringen die Besucher nah zu den königlichen Gemächern und einstigen Keramikwerkstätten.
Keine 20 Minuten von Malia entfernt ein anderer Palast direkt am Meer: Das Amirandes spiegelt sich im Wasser wie ein prächtiger minoischer Palast. Das GrecotelResort wurde wie die königlichen Vorbilder mit natürlichen Steinterrassen und Olivenbäumen auf einem Areal von 70.000 Quadratmetern angelegt. Durch die Pergola weht mediterraner Duft. Im warmen Licht des Sonnenuntergangs werden gerade die Plattformen aus dem großen Becken gefahren und bilden die Grundfläche für ein Restaurant inmitten von Wasser und Amphoren. Zum kretischen Mahl, Fisch, Skordalia mit frischem Knoblauch und dem Choriatiki mit aromatischen Tomaten, Feta und Oliven von der kretischen Agreco-Farm, wird minoische Geschichte gereicht – das Restaurant heißt Minotaurus.
Der Mythos sagt, die Kreaturen, halb Mensch und halb Stier, haben nahe dem heutigen Amirandes im Labyrinth von Knossos gelebt. Es wäre eben der legendäre Minos gewesen, der sie heraufbeschwor. Kretas König wird in der Chronik als Sohn des Zeus und Vater von acht Kindern beschrieben, darunter Ariadne – ja, die mit dem Faden. Um gekrönt zu werden, bat Minos seinen Onkel, keinen Geringeren als den griechischen Mee-
resgott, um Unterstützung und gelobte das zu opfern, was immer Onkel Poseidon schicken würde. Dieser sandte einen kraftstrotzenden Stier; Minos wurde König von Kreta. Als er sein Wort nicht hielt, nahm Poseidon Rache, und Minos Gemahlin gebar bald den Minotaurus. Von den starken StierMensch-Wesen war ein Künstler ganz besonders fasziniert: Pablo Picasso. Der Maler stellte sich sogar selbst als mythischen Minotaurus dar. Das und eine Kollektion originaler Keramikkunstwerke von Picasso sind heute im Restaurant Minotaur zu sehen. Mensch-Stier-Wesen
Warmer Wind streicht über die Landschaft. Zeit für den Aufbruch nach Westen. Die mehrstündige Autostrecke führt über Heraklion mit einem Abstecher zur kleinen Hafenstadt Rethymno und weiter nach Chania. Die zweitgrößte Stadt Kretas liegt ganz im Inselwesten und ist für ihren schmucken venezianischen Hafen bekannt. Die Spaziergänge führen an der Wasserkante entlang und zurück durch pittoreske Altstadtgassen, die verleiten, mehr Zeit in Chania zu verbummeln. Doch so nah liegt der Strand?
Nach kurzer Fahrt über Schotterpisten bleibt das Auto seitlich am Felsmassiv stehen, und es geht zu Fuß weiter, durch die steinige, felsige Landschaft, bis man schließlich auf der westlichsten Spitze Kretas ihr Ende erreicht – und den 45-minütigen Abstieg beginnt. Stufe über Stufe über steinige Absätze hinunter führt der Pfad, doch das Ziel lohnt: Durch eine schmale Landbrücke mit dem Festland verbunden erstreckt sich eine Halbinsel im Meer mit türkisfarbenen Lagunen zu beiden Seiten, kontrastierend mit weißem Muschelsand. Eine wahre Traumlandschaft: Balos Beach, für viele der schönste Strand Griechenlands. Das Wasser ist flach und warm bis lang in den Herbst.
In der Nähe trifft man noch einmal auf Minos und seine Schriften, denn an der Westspitze erstreckt sich bei Kolymbari an der Bucht von Chania ein Resort, dessen Böden die sagenhaften minoischen Schriftzeichen zieren: Das Avra Imperial zeigt die Silbenschrift der mykenischen Kultur Griechenlands, die sogenannte Linear-B-Schrift. Sie wurde noch bis ins zwölfte Jahrhundert v. Chr. auf Kreta verwendet und breitete sich von dort ausgehend auf dem griechischen Festland aus. Zur Erinnerung an König Minos ragen die riesigen Lettern hier auch an den Wänden empor. Genauso senkrecht steht das Wasser – nur gehalten von einer meterhohen Glaswand, strahlend türkisfarben im riesigen Pool.