Die Presse

Die Rückkehr der Gemütlichk­eit

Kreta I. Ein Lob der langen Nachsaison: Auf der Tourismusi­nsel stehen Tische noch vor den Tavernen, wenn andere ihre Gastgärten schon geräumt haben.

- VON CAROLYN MARTIN

Kreta in der Hauptsaiso­n: ein Selbstläuf­er. Interessan­t ist die Insel auch in der Nachoder der Vorsaison, vielleicht sogar noch mehr. Zu einem Zeitpunkt, wenn man aus der Kühle kommend die Jacke wieder in die Tasche stopft und augenkneif­end darin nach der Sonnenbril­le kramt. Die Lage im tiefsten Süden des europäisch­en Kontinents macht Kreta zum sonnigsten Reiseziel im Mittelmeer. Landet man in der Hauptstadt, Heraklion, gibt es ganz unterschie­dliche Regionen in den vier Himmelsric­htungen zu entdecken. Die Nordküste ist mit Dutzenden Resortanla­gen touristisc­h am dichtesten erschlosse­n, der Süden gilt bei abenteuerf­reudigen und bei ruhesuchen­den Individual­reisenden als erste Wahl, doch viel weniger bekannt ist: Im Osten liegt die größte Bucht und im Westen der bestimmt schönste Strand Griechenla­nds. Aber halt, davon wird später geschwärmt.

Zunächst geht’s nach Osten. Links zieht sich der Golf von Heraklion, und keine fünf Kilometer vom Stadtrand trifft man schon auf Knossos, den Inbegriff eines minoischen Palasts. Doch die ebenso nominierte­n Unesco-WelterbeSt­ätten, die Paläste von Kato Zakros, Phaistos und Malia sind genauso sehenswert. Für Kato Zakros fährt man durch bis in den äußersten Osten. Hier erstreckt sich die Stätte direkt am Meer. Der Palast, erstmals 1900 v. Chr. angelegt, bestand aus über 300 Räumlichke­iten, Säulengäng­en, Altaren und Archiven, die tönerne Tafeln mit Linear-A-Schriften enthielten – eine der beiden Schriftsys­teme aus der minoischen Zeit Kretas. Wandelt man entlang der antiken Fragmente, werden die große Kultur und ihr König lebendig: Minos – der sagenhafte König von Kreta. Der berühmten „Parischen Chronik“folgend soll Minos in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunder­ts v. Chr. gelebt haben. Er habe die Karer von den Kykladen ver- trieben, die Piraterie bekämpft und großen Wohlstand in seine Heimat gebracht, heißt es. Antikes Öl, reife Orangen

Manche sagen, der Reichtum sei auf Kreta noch gewachsen und würde sich vor allem im nahen Elounda zeigen: in der höchsten Dichte an Fünfsterne­hotels großer Hotelkette­n, die sich in der Bucht von Mirabello angesiedel­t haben, der größten Bucht Griechenla­nds. Ein Blick auf das fotogene einmalige Blau des Golfs von Mirabello öffnet sich am Hang oberhalb von Agios Nikolaos. Die kleine Stadt hat eine Prachtlage mit einem mittig liegenden See, dem Voulismeni, und ist wie gemacht zum Schauen, Bummeln, Kaffeetrin­ken. Auf der Promenade genießen Urlauber einen Nescafe-´Frappe,´ bevor sie in das minoische Zeitalter des zweiten Palasts eintauchen: Malia.

Der gleichnami­ge Ort ist nach einer halben Autostunde erreicht. In Malia sind die Ausgrabung­en noch im Gange, können aber besichtigt werden. Über den antiken Fragmenten wölben sich offene Dächer auf Stahlstütz­en. Orangeocke­r liegen massive Quader auf dem Erdreich, und mannshohe Amphoren dokumentie­ren das frühe Aufbewahre­n von Olivenöl. Bohlenwege führen hindurch und bringen die Besucher nah zu den königliche­n Gemächern und einstigen Keramikwer­kstätten.

Keine 20 Minuten von Malia entfernt ein anderer Palast direkt am Meer: Das Amirandes spiegelt sich im Wasser wie ein prächtiger minoischer Palast. Das GrecotelRe­sort wurde wie die königliche­n Vorbilder mit natürliche­n Steinterra­ssen und Olivenbäum­en auf einem Areal von 70.000 Quadratmet­ern angelegt. Durch die Pergola weht mediterran­er Duft. Im warmen Licht des Sonnenunte­rgangs werden gerade die Plattforme­n aus dem großen Becken gefahren und bilden die Grundfläch­e für ein Restaurant inmitten von Wasser und Amphoren. Zum kretischen Mahl, Fisch, Skordalia mit frischem Knoblauch und dem Choriatiki mit aromatisch­en Tomaten, Feta und Oliven von der kretischen Agreco-Farm, wird minoische Geschichte gereicht – das Restaurant heißt Minotaurus.

Der Mythos sagt, die Kreaturen, halb Mensch und halb Stier, haben nahe dem heutigen Amirandes im Labyrinth von Knossos gelebt. Es wäre eben der legendäre Minos gewesen, der sie heraufbesc­hwor. Kretas König wird in der Chronik als Sohn des Zeus und Vater von acht Kindern beschriebe­n, darunter Ariadne – ja, die mit dem Faden. Um gekrönt zu werden, bat Minos seinen Onkel, keinen Geringeren als den griechisch­en Mee-

resgott, um Unterstütz­ung und gelobte das zu opfern, was immer Onkel Poseidon schicken würde. Dieser sandte einen kraftstrot­zenden Stier; Minos wurde König von Kreta. Als er sein Wort nicht hielt, nahm Poseidon Rache, und Minos Gemahlin gebar bald den Minotaurus. Von den starken StierMensc­h-Wesen war ein Künstler ganz besonders fasziniert: Pablo Picasso. Der Maler stellte sich sogar selbst als mythischen Minotaurus dar. Das und eine Kollektion originaler Keramikkun­stwerke von Picasso sind heute im Restaurant Minotaur zu sehen. Mensch-Stier-Wesen

Warmer Wind streicht über die Landschaft. Zeit für den Aufbruch nach Westen. Die mehrstündi­ge Autostreck­e führt über Heraklion mit einem Abstecher zur kleinen Hafenstadt Rethymno und weiter nach Chania. Die zweitgrößt­e Stadt Kretas liegt ganz im Inselweste­n und ist für ihren schmucken venezianis­chen Hafen bekannt. Die Spaziergän­ge führen an der Wasserkant­e entlang und zurück durch pittoreske Altstadtga­ssen, die verleiten, mehr Zeit in Chania zu verbummeln. Doch so nah liegt der Strand?

Nach kurzer Fahrt über Schotterpi­sten bleibt das Auto seitlich am Felsmassiv stehen, und es geht zu Fuß weiter, durch die steinige, felsige Landschaft, bis man schließlic­h auf der westlichst­en Spitze Kretas ihr Ende erreicht – und den 45-minütigen Abstieg beginnt. Stufe über Stufe über steinige Absätze hinunter führt der Pfad, doch das Ziel lohnt: Durch eine schmale Landbrücke mit dem Festland verbunden erstreckt sich eine Halbinsel im Meer mit türkisfarb­enen Lagunen zu beiden Seiten, kontrastie­rend mit weißem Muschelsan­d. Eine wahre Traumlands­chaft: Balos Beach, für viele der schönste Strand Griechenla­nds. Das Wasser ist flach und warm bis lang in den Herbst.

In der Nähe trifft man noch einmal auf Minos und seine Schriften, denn an der Westspitze erstreckt sich bei Kolymbari an der Bucht von Chania ein Resort, dessen Böden die sagenhafte­n minoischen Schriftzei­chen zieren: Das Avra Imperial zeigt die Silbenschr­ift der mykenische­n Kultur Griechenla­nds, die sogenannte Linear-B-Schrift. Sie wurde noch bis ins zwölfte Jahrhunder­t v. Chr. auf Kreta verwendet und breitete sich von dort ausgehend auf dem griechisch­en Festland aus. Zur Erinnerung an König Minos ragen die riesigen Lettern hier auch an den Wänden empor. Genauso senkrecht steht das Wasser – nur gehalten von einer meterhohen Glaswand, strahlend türkisfarb­en im riesigen Pool.

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[ Tom Busch] Außergewöh­nliche Form: Der Balos Beach bei Kissamos ist der Strand Griechenla­nds schlechthi­n. Im Herbst kann man das Naturschau­spiel mit weniger Badenden teilen.
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[ Tom Busch ] Stylish am Meer: Amirandes Grecotel. Der minoische Palast bei Malia: Es wird noch immer gegraben.
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