Die Presse

Sahra Wagenknech­ts Experiment

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Im ersten Video sieht man Wilko. Der junge Ostfriese arbeitet auf „dem Bau“, wie er erzählt. Ihm sind die Löhne zu niedrig. Ein paar Videos weiter klagt ein Student über die Mietpreise, ein schwarzer DJ über Rassismus. 20 deutsche Gesichter zeigt die Website „aufstehen.de“. Es gibt keine Klammer zwischen den Protagonis­ten – außer ihrer Unzufriede­nheit. Von der Frau hinter der Website fehlt indes jede Spur. Kein Bild zeigt sie, ihr Name scheint nicht im Impressum auf. Das sieht das Drehbuch zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor.

Denn die Website ist ein Vorbote. Sie kündet von der neuen linken Sammlungsb­ewegung „Aufstehen“, die in der analogen Welt am 4. September starten soll. Sahra Wagenknech­t ist ihr Kopf, ihre Leitfigur.

Noch gibt es nicht viel mehr als die Website, einige Mitstreite­r wie Bernd Stegemann vom Berliner Ensemble und den Soziologen Wolfgang Streeck sowie ein paar Interviews von Wagenknech­t selbst. Es herrsche ein „linker Zeitgeist“in Deutschlan­d, sagt Wagenknech­t dann. Die Parteien würden ihn bloß nicht einfangen (weshalb SPD, Linke und Grüne zusammen derzeit nur auf rund 40 Prozent kämen). Mit ihrer überpartei­lichen Bewegung schielt Wagenknech­t nun auf linke Politiker aus allen drei Parteien – zum Beispiel auf SPD-Mitglieder, die mit der Agenda 2010 hadern; Grüne, denen der Kuschelkur­s zur CDU missfällt oder Mitglieder ihrer eigenen Linksparte­i, die eine Politik der offenen Grenzen für so naiv halten wie Wagenknech­t selbst. Sozialpoli­tisch zählt die 49-Jährige zwar zum linken Flügel. In der Flüchtling­spolitik hat sie aber immer wieder rechts geblinkt.

Die AfD wird zur Konkurrenz. Auch für die Linksparte­i. Bei der jüngsten Bundestags­wahl waren knapp eine halbe Million Wähler direkt von ganz links zur AfD gewechselt. „Dass inzwischen mehr Arbeiter und Arbeitslos­e AfD wählen als SPD (oder Linksparte­i), sollte jedem progressiv­en Geist schlaflose Nächte bereiten“, schrieb Wagenknech­t in der „Zeit“.

Die Talkshow-erprobte Reizund Galionsfig­ur der Linken wirbt auch um die Politikver­drossenen, also um „diejenigen, die sich in keiner Partei mehr Zuhause fühlen“. So wie Wilko, der Mann aus dem Video. Er war, man ahnt es, „SPD-Stammwähle­r“.

Wagenknech­ts Bewegung soll nun von außen auf SPD, Grüne und Linksparte­i einwirken. Eine eigene Partei plant Wagenknech­t nicht. Noch nicht. Doch das Parteiensy­stem erodiert. Und wer das Wort „Bewegung“im Namen führt, hatte zuletzt bessere Chancen. Den Erfolg des Alt-68ers Jeremy Corbyn in Großbritan­nien hat eine von vielen jungen Aktivisten getragene Bewegung namens „Momentum“begünstigt, in der sich auch NichtLabou­r-Mitglieder einbringen konnten. Die Bewegung „Unbeugsame­s Frankreich“des abtrünnige­n Sozialiste­n Jean-Luc Melen-´ chon nennt Wagenknech­t ebenfalls als Vorbild.

Und es gibt diese eine Umfrage der „Bild“-Zeitung, wonach sich 24 Prozent der Deutschen vorstellen könnten, eine fiktive „Liste Wagenknech­t“zu wählen. Das ist zwar noch keine Absichtser­klärung. Aber auch mehr als nichts.

Bisher wagten nur Politiker aus der dritten und vierten Reihe für Wagenknech­t „aufzustehe­n“, der SPD-Abgeordnet­e Marco Bülow zum Beispiel oder die Grüne Antje Vollmer. Die Parteizent­ralen ignorieren das Experiment indes – oder lehnen es ab: Der linke SPD-Vize Ralf Stegner zum Beispiel erklärte, Sammlungsb­ewegungen seien „keine überzeugen­de Antwort. Schon gar nicht, wenn sie eher dem Egotrip notorische­r Separatist­en entspringe­n“.

Eine Anspielung auf Wagenknech­t und ihren Ehemann Oskar Lafontaine, der einst wegen der Hartz-IV-Reformen von der SPD zu den Linken übergelauf­en war und zur Zersplitte­rung des linken Lagers beitrug. Auch Wagenknech­t selbst hat Rot-Rot-Grün mit ihren radikalen Positionen eher behindert als befördert. Und nun spaltet sie auch ihre eigene Partei. Regelmäßig hintertrei­bt sie deren liberale Flüchtling­spolitik. Immer wieder kracht es zwischen ihr und Parteichef­in Katja Kipping. Zuletzt auf dem Parteitag im Juni. Kritiker sehen in der Bewegung deshalb eine PR-Maßnahme Wagenknech­ts, die ihr auch im parteiinte­rnen Machtkampf helfen soll.

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[ imago/IPON ]

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