Eingeschriebener Brief
Hat der Postler alles inszeniert?
I ch bekomme nicht so viele eingeschriebene Briefe, und das ist vermutlich eh gut, weil eingeschriebene Post hat etwas Furcht einflößendes, sie kommt daher wie bewaffnetes Papier. Jedenfalls bekomme ich nach langer Zeit wieder einen Brief dieser Art, und der Postmann sieht mich beim Unterschreiben schon so streng an, da kommt ohne Umschweife Panik auf. Die Gesichtszüge entgleiten in verschiedene Richtungen, plötzliche Düsternis, und man steht da wie eine dieser angstzerfressenen Figuren von Francisco Goya, denen die Augen so schrecklich rausquillen. Stellt sich aber heraus, die Goya-Nachstellung war völlig überflüssig, der Brief harmlos und der Postmann wahrscheinlich höchst amüsiert für den Rest des Tages.
Aber einige Stunden später klingelt es. Fernsprechanlage. Ich: „Hallo?“Unbekannte Frau: „Özkan?“Ich: „Ja?“Unbekannte Frau: „Sie haben Post bekommen.“Ich: „Was?“Unbekannte Frau: „Auf der Straße flattert eine Benachrichtigung von der Post mit ihrem Namen, dass Sie einen eingeschriebenen Brief bekommen haben, aber nicht zu Hause waren.“Ich, aus völlig irrationalen Gründen die unbekannte Frau anfahrend: „Aber ich bin doch zu Hause!“Unbekannte Frau: „Ich wollte es Ihnen nur sagen. Was soll ich jetzt mit der Benachrichtigung machen?“Ich: „Ich habe heute schon einen eingeschriebenen Brief bekommen . . . Wegschmeißen?“Unbekannte Frau: „Ja, wegschmeißen. Auf Wiedersehen.“Ich: „Danke, Auf Wiedersehen.“
Es gibt ja diese Situationen, da kommt man erst später auf alles drauf und dann ergibt es irgendwie Sinn. Für dieses Fernsprechanlagen-Gespräch gilt das jedenfalls nicht, ich tappe schwer im Dunkeln. Irgendwo in einem Müll liegt eine Benachrichtigung für mich und ich habe mich bei der netten Frau nicht einmal ordentlich bedankt für ihre Aufmerksamkeit, oder sie auf einen Kaffee heraufgebeten. Und was war überhaupt mit dem Postler los? Hat er das inszeniert? Wenn ja: Meine Hochachtung.