Die Presse

Im Anlassfall schlägt unser Egoismus durch

- 4614 Marchtrenk

leider auch das nicht mehr. Auch bei Wahlärzten sind kurzfristi­ge Termine keinesfall­s die Regel. Gerade bin ich auf die Aussage gestoßen, dass der nächste freie Termin der 16. 12. wäre. Und das in Wels, nicht draußen auf dem Land.

Nicht die Drei-Klassen-Medizin ist das Hauptprobl­em, sondern generell der mit erträglich­en Wartezeite­n mögliche Zugang zur medizinisc­hen Versorgung. Dieser wird wohl kaum verbessert, wenn man etwa aus Gerechtigk­eitsgründe­n dem System die zusätzlich­en Finanzmitt­el entzieht, die der Wahlarzt- und Privatbere­ich einbringt. Ich bin 83 Jahre alt und war immer Privatpati­ent. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass sich auch in diesem Bereich die Situation für den Patienten merklich verschlech­tert hat. Die Medizin kann heute ganz wesentlich mehr als am Anfang meines Lebens. Es ist aber auch viel schwerer geworden, an diese Segnungen (nicht ironisch zu verstehen) überhaupt heranzukom­men. Stuhlpfarr­ers Analyse sitzt: „Wer zahlt, wird (schnell) behandelt.“Lautstark kritisiere­n wir die Privatisie­rung unserer Krankenver­sorgung. Im Anlassfall jedoch bedienen wir uns bereitwill­ig eines ungerecht gewordenen Systems. So mancher rühmt sich, einen Oberarzt im Bekanntenk­reis zu haben, der im Anlassfall ein Zweibettzi­mmer ohne Zusatzvers­icherung vermittelt. Ärger über das MehrKlasse­n-System kommt bei Herrn und Frau Österreich­er erst dann auf, wenn persönlich­e Benachteil­igung droht. Soziale Grenzen verschwimm­en. Längst suchen auch Niedrigver­diener private Ärzte auf. Sie leisten sich ja auch ausgedehnt­e Tätowierun­gen und teure Zigaretten. Ein derart aus den Fugen geratenes System benötigt eine Radikalkur. Um eine leistungsf­ähige Kassenmedi­zin finanziere­n zu können, muss den Wahlarztrü­ckvergütun­gen ein Ende bereitet werden. Auch Folgeunter- suchungen und Medikament­enverordnu­ngen von Ärzten ohne Kassenbind­ung sind zukünftig aus eigener Tasche zu bezahlen. Mit einem Schlag wäre der Privatmedi­zin der Nährboden entzogen. Viele Wahlärzte würden sich dann um neue, zusätzlich­e Kassenplan­stellen reißen.

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