Lesen bei schlechtem Licht
Forschungsfrage: Werden die Augen schlechter, wenn man bei schlechtem Licht liest?
Das Szenario ist altbekannt. „Verdirb dir nicht die Augen“, sagt die Mutter, als das Kind abends bei schummriger Beleuchtung zu einem Buch greift. Dass Lesen bei schlechtem Licht den Augen schade, sei lange für einen Mythos gehalten worden, sagt Medizinerin Andrea Langmann von der Universitäts-Augenklinik in Graz. Doch in jüngster Zeit mehren sich Forschungsergebnisse insbesondere aus Taiwan, die darauf hinweisen, dass die Volksweisheit doch einen wahren Kern hat.
Denn dort ist Kurzsichtigkeit bei Kindern weit verbreitet, rund 95 Prozent leiden daran. In Europa liegt der Wert bei etwa 35 Prozent, Tendenz steigend. Schuld sei aber nicht allein das schlechte Licht, so Langmann – auch wenn man sich wegen schlech- terer Kontraste und geringerer Tiefenschärfe mehr anstrengen müsse. Um es sich einfacher zu machen, gehe man näher an den Text heran. „Das ist die einfachste Form der Vergrößerung.“Dadurch müssen sich die Augen aber noch mehr plagen. Es werde schwieriger, die Bilder zu einem zusammenzufügen. Mögliche Folgen: Man sieht verschwommen bzw. doppelt oder bekommt Kopfschmerzen. „Dem Auge wird kommuniziert, dass die Sehschärfe hinter der Netzhaut ist“, erklärt Langmann. Und das wiederum sei ein möglicher Auslöser für Kurzsichtigkeit (Myopie).
Das gläserne Klassenzimmer
Schon 1860 hätten Lehrbücher auf einen möglichen Schaden durch zu nahes Lesen bei schlechtem Licht hingewiesen, erzählt die Medizinerin. Damals sei sogar das Schulsystem mit seinem zu starken Fokus auf Buchwissen kritisiert worden. Heute scheint klar, dass vor allem Tageslicht die Wahrscheinlichkeit einer Kurzsichtigkeit reduziere. „Zuerst dachte man, Sport würde vorbeugend helfen, doch dann stellte man fest, dass es das natürliche Licht ist.“In Taiwan, wo es ein Ganztagesschulsystem gibt, würden bereits gläserne Klassenzimmer gebaut, die möglichst viel natürliches Licht hereinlassen. Kinder brauchten täglich zwei Stunden Tageslicht, um einer Kurzsichtigkeit vorzubeugen, sagt Langmann.
Aber auch durch den bei Smartphones deutlich geringeren Leseabstand als bei Büchern steige die Wahrscheinlichkeit, kurzsichtig zu werden. „Das Auge braucht mindestens 30 Zentimeter Abstand“, erklärt Langmann. Kinder sollten daher nicht zu nahe am Display „kleben“und außerdem nach circa 30 Minuten eine Lesepause einlegen. Werde Kunstlicht genutzt, um einen Raum auszuleuchten, solle es keinesfalls blenden oder flim- mern. Immerhin: Mögliche Folgen einer Myopie reichten von Augenkrankheiten wie dem Grauen oder Grünen Star über eine Netzhautablösung bis zum Verlust der Sehfähigkeit.
In ihrer Forschung untersucht Langmann, ob sich die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 15 Jahren mit Atropin bremsen lässt. Aus der Schwarzen Tollkirsche (Atropa
belladonna) gewonnene Extrakte wurden bereits in der Renaissance eingesetzt, um die Pupillen zu weiten – einst ein Schönheitsideal, bella donna bedeutet schöne Frau. Seit rund einem Jahr wird die Substanz nun an der Med-Uni Graz Patienten als Therapie in die Augen eingetropft. Es zeichneten sich bereits erste Erfolge ab, so Langmann. Für ein Resümee sei es allerdings noch zu früh.
„Täglich zwei Stunden Tageslicht beugen einer Kurzsichtigkeit bei Kindern vor.“
Andrea Langmann, Med-Uni Graz