Das Ende des Prager Frühlings
Barbara Coudenhove-Kalergi – Tagebuch einer Pragerin.
Prag, Juni 1968. Der Prager Frühling steht in voller Blüte. Ich bin in meine Heimatstadt gereist, halb beruflich in meiner Eigenschaft als Reporterin, halb privat, weil ich sehen will, wie das ist, wenn in einer kommunistischen Gesellschaft plötzlich die Demokratie ausbricht. In meinem Tagebuch liest sich das so: „Die Stadt, früher grau und mieselsüchtig, ist wie verwandelt. Wir kommen uns vor wie im Süden. Vor dem JanHus-Denkmal auf dem Altstädter Ring sitzen junge Leute, singen, nicht laut und besoffen, sondern leise, glücklich, verliebt. Viele lächelnde Gesichter. Wildfremde Leute sprechen einander an. Ist es nicht schön hier?, fragen sie einander. Ich kenne meine grantigen Prager nicht wieder. Kann es sein, dass Politik eine ganze Stadt verzaubert?“
Die Verwandlung hat schon im Vorjahr begonnen. Im Mai die Kafka-Konferenz auf Schloss Dobris bei Prag, einberufen von Eduard Goldstücker, Germanist, Kafka-Kenner und Präsident des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes. Franz Kafka, jüdischer Prager Deutscher, der in den kommunistischen Staaten als dekadent verfemt war, sollte rehabilitiert werden. Der österreichische Schriftsteller Ernst Fischer, führender Kommunist, war eingeladen und rief, unter Applaus, in den Saal: Wir beantragen ein Dauervisum für Franz Kafka in dessen Heimat! Es folgte einen Monat später der Kongress des Schriftstellerverbandes, bei dem die wichtigsten Autoren des Landes vehement Meinungsfreiheit und Aufhebung des Zensur verlangten. Die Folge: Ivan Kl´ıma, Anton´ın Liehm und Ludv´ık Vacul´ık wurden aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Aber der Ruf nach Demo- kratie ließ sich nicht mehr unterdrücken. Die Studenten protestierten, immer mehr Journalisten ignorierten einfach die Zensur. Und die Demokratisierung ging weiter. Die Zensur wurde offiziell aufgehoben. Der Ökonomieprofessor Ota Sik,ˇ Wirtschaftsverantwortlicher der Partei, stellte ein neues Wirtschaftsprogramm vor: Schluss mit der Kommandowirtschaft, Wettbewerb, Autonomie der Betriebe, sozialistische Marktwirtschaft. Die Bevölkerung war begeistert.
Das ist der Stand der Dinge, als mein Mann, Franz Marek, Mitglied des Politbüros der KPÖ und führender Eurokommunist, und ich nach Prag kommen. Wir treffen Ota Sik.ˇ Ich notiere im Tagebuch: „Ich kenne Audienzen bei kommunistischen Größen und bin beeindruckt vom anderen Stil, der hier herrscht. Professor Sikˇ redet offen und ungeschminkt. Ja, die Menschen in den Betrieben haben die ineffiziente Parteiwirtschaft satt und sind bereit für etwas Neues, sagt er, aber um wirklich weiterzukommen, braucht man neue Betriebsleiter. Neue Leute müssen her, überall, sonst haben Reformen keine Chance. Er lädt uns ins Gartenrestaurant Barrandov zum Mittagessen ein. Er wird erkannt. Ständig kommen Leute an unseren Tisch, wollen dem Hoffnungsträger die Hand geben, sagen: Machen Sie weiter! Lassen Sie sich nicht entmutigen!“
Eduard Goldstücker nimmt uns mit auf die Karlsuniversität, wo er eine Vorlesung über die Verantwortung des Schriftstellers hält. Der Hörsaal ist gerammelt voll. Die Studenten sitzen auf den Fensterbrettern, auf dem Boden, diskutieren leidenschaftlich. Eine wichtige Forderung: Die in den Fünfzigerjahren hingerichteten politischen Gegner der kommunistischen Machthaber müssen rehabilitiert werden! Unser Freund Anton´ın „Tonda“Liehm ist Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Literarny´ Listy“. Das ist eine anspruchsvolle Zeitschrift, aber in diesen Monaten verkauft sie über 140.000 Exemplare pro Woche, weil hier die interessantesten politischen Artikel zu finden sind.
Tonda führt uns in den Filmclub, wo wir die neuen tschechischen Filme von Milosˇ Forman, Jirˇ´ı Menzel und anderen sehen, die inzwischen internationale Anerkennung gefunden haben. Jetzt kommt eine Talentexplosion! Auf allen Gebieten! Ihr werdet sehen!, sagt Tonda.
Als wir eines Morgens in unserem Hotel beim Frühstück sitzen, kommt einer unserer tschechischen Bekannten hereingestürmt, die neueste Ausgabe der „Literarny´ Listy“in der Hand. Hier ist das später berühmt gewordene „Manifest der 2000 Worte“abgedruckt, das von dem Schriftsteller Ludv´ık Vacul´ık verfasst und von zahlreichen führenden Intellektuellen unterzeichnet worden ist. Für jedes dieser Worte haben sie uns drei Panzer geschickt, sagen die Tschechen später, nach der Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten. Aber das Manifest hat es tatsächlich in sich. Es richtet sich „an die Arbeiter, an die Landwirte, an die Künstler, an alle“. Das Programm des Sozialismus sei in die Hände der falschen Leute geraten, heißt es darin. An „herrschsüchtige Egoisten, skrupellose Feiglinge, Leute mit schlechtem Gewissen“: „Zur Anständigkeit reicht es nicht mehr. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind verdorben.“Jetzt gelte es, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen, Bürgerkomitees zu gründen, die korrupten Betriebsleiter zur Rechenschaft zu ziehen. Und, in Anspielung an ein berühmtes Wort von Jan Hus: „Die Wahrheit siegt nicht von allein.“– „Der Frühling geht zu Ende“, schließt das Manifest, „im Winter werden wir mehr wissen.“
Wie später herauskam, war dieses Manifest der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die Hardliner in der Parteiführung dazu bewog, die „Bruderstaaten“des Warschauer Paktes zum Eingreifen zu bewegen. Damals sagten die Konservativen im Westen, diese rasante Demokratisierung würde die Sowjetunion nie akzeptieren. Und hatten recht. Die Linken waren optimistischer. Sie hatten die Studentenbewegung in Frankreich, Deutschland, Amerika und auch in Österreich gesehen und die Protestbewegung in Polen verfolgt. Ihr Traum – mehr soziale Gerechtigkeit im Westen, mehr Demokratie im Osten – schien in greifbare Nähe gerückt.
So bescheuert können nicht einmal die Russen sein, meinte Franz Marek, eine kommunistische Partei zu zerstören, die endlich einmal wirklich populär ist und bei freien Wahlen mühelos gewinnen würde. Und so fuhren wir in jenem Sommer vergnügt auf Urlaub nach Italien. Und fielen aus allen Wolken, als wir am 22. August die Zeitung aufschlugen und die Schlagzeile sahen: „Panzer in Prag“. Was folgte, steht in den Geschichtsbüchern. Die „brüderliche Hilfe“der Warschauer-Pakt-Staaten gegen die „Konterrevolution“in der Tschechoslowakei. Die Rücknahme aller Reformen. Die Wiedereinführung der Zensur. Die gewaltsame Überführung der tschechoslowakischen Parteiführung nach Moskau, wo diese gezwungen wurde, um Blutvergießen zu vermeiden, die schmachvolle „Moskauer Erklärung“zu unterzeichnen, die das „brüderliche“Eingreifen der Verbündeten akzeptierte.
Nur einer weigerte sich, das Papier zu unterschreiben: Frantisekˇ Kriegel, Mitglied des Zentralkomitees, Chef der sogenannten Nationalen Front, einst Arzt bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Die Reaktion der Moskauer Parteiführer kam prompt: Dieser „galizische Jude“müsse in der Sowjetunion bleiben, mit ungewissem Schicksal, die anderen dürften heimfahren. Ohne Kriegel fahren wir nicht, sagten diese, worauf die Russen nachgaben und die ganze Gruppe nach Prag zurückkehrte. Ich habe Frantisekˇ Kriegel Jahre später, als ich wieder nach Prag einreisen durfte, im Spital besucht. Er war todkrank und hat diesen Spitalsaufenthalt nicht überlebt. Aber ich bin heute noch stolz darauf, dass dieser einsame Tapfere damals zu mir sagte, auf Deutsch: Mädel, bleib, wie du bist.
Der Prager Frühling war zu Ende. Aber nicht der Widerstand der Tschechen, die damals eine der Sternstunden in ihrer Geschichte erlebten. Die Menschen, die in der Schule Russisch gelernt hatten, stellten sich den Panzern in den Weg und diskutierten mit den Soldaten. Wisst ihr überhaupt, wo
Plakate mit Widerstandsparolen erschienen über Nacht an den Plakatwänden. Eines lautete: „Lenin, wach auf, Breschnew ist verrückt geworden.“