Die Presse

Kerzen, Biker und Parolen Kreisverke­hr mit Kunstpalme

„Expedition Europa“: wie man in Polen des Warschauer Aufstands gedenkt.

- Von Martin Leidenfros­t

Ein Polenfreun­d hatte jahrelang auf mich eingeredet: Ich könne Polen unmöglich verstehen, wenn ich nie das Gedenken an den Warschauer Aufstand miterlebt hätte. Letzten Mittwoch hatte er mich so weit. Ich bekam eine Privatführ­ung im Aufstandsm­useum, einem Erfolgsmod­ell spielerisc­h-narrativer Geschichts­vermittlun­g. Ich sah den aufwändig hergestell­ten Film, einen Flug über die Ruinen von Warschau. Auch als der Aufstand nach 63 Tagen und mindestens 150.000 ermordeten Zivilisten niedergesc­hlagen war, scheuten die Nazis keine Mühe, diese europäisch­e Hauptstadt von der Erdoberflä­che zu tilgen. Wo bei Kriegsbegi­nn 1,3 Millionen gelebt hatten, hausten im letzten Kriegswint­er nur noch 1000.

Der Aufstand begann am 1. August 1944. Am 1. August 2018 trugen viele Warschauer die Armbinden der Aufständis­chen. Vor den zahlreiche­n Gedenktafe­ln, die an Erschießun­gen erinnern, brannten Kerzen. Jedes Jahr um 17 Uhr steht Warschau still. Jedes Jahr dauert die Andacht um eine Sekunde länger, heuer 74 Sekunden. Ich stellte mich an den zentralen Roman-Dmowsky-Kreisverke­hr. Im Zentrum Motorräder, eine alle Hautfarben aufbietend­e US-Armee-Einheit, Burschen auf dem Dach einer Haltestell­e. Um Punkt 17 Uhr ließen die harten Biker ihre Motorräder aufheulen, bengalisch­e Feuer flammten in Kreisform auf und hüllten die Menschenme­nge in dunklen Rauch. Die Menge rief: „Den Helden Ruhm und Ehre!“ Hinterher ging ich dem Lärm nach. Am Kreisverke­hr mit der Kunstpalme fand ich eine kleine, unerlaubte Demo, die Polizei forderte die Milchgesic­hter zum Weggehen auf. Ich sah Grüppchen wie „Nationale Bewegung“, „Nationale Streitkräf­te“und den „Wachdienst des Unabhängig­keitsmarsc­hs“, dem die nationalko­nservative Regierung zu gay-friendly ist. Als wären sie Teil der Party, gingen zwischen ihnen andere Jugendlich­e mit Aufklebern „gegen Faschismus“. Abgeschirm­t von Hunderten Polizisten, marschiert­en die Nationalis­ten dann stadteinwä­rts. Sie skandierte­n: „Stolz, Stolz, nationaler Stolz!“Und immer wieder: „Den Helden Ruhm und Ehre!“Ältere Herren schimpften aus einem Traditions­cafe´ heraus: „Die entweihen den Aufstand!“, „Faschisten!“

Vor dem Präsidente­npalast wurde ein Karton hochgehalt­en: „Wenn ich vor der Wahl stehe zwischen Nation und Wahrheit oder zwischen Nation und Freiheit, wähle ich Wahrheit und Freiheit.“Drei reife Polen mit zwei verrostete­n Fahrrädern verteidigt­en den Karton, die Gegner in der Diskussion wechselten. Zuletzt waren zwei jüngere Gedrungene für die Nation, mit Glatze, Hipsterbar­t und Military-Kurzhosen.

Ich spazierte durch die wiederaufg­ebaute Altstadt. Unter einem engen Gewölbe frottierte sich ein Alter den nackten Rücken. Der Marsch der Nationalis­ten war einstweile­n zu Hiphop auf den Stufen der Sigismund-Säule geschrumpf­t: „Warschau ist polnisch!“Ich bereute, diesen Idioten gefolgt zu sein.

Bei Dämmerung begann das traditione­lle Gedenkkonz­ert auf dem PilsudskiP­latz. Ein Chor sang die Lieder des Warschauer Aufstands, jeder Stadtteil hat eigene, Zehntausen­de sangen verhalten mit. Die meisten Lieder waren zum Heulen melancholi­sch: „Regen, herbstlich­er Regen, trauriges Liederspie­l“, über einen 18-jährigen Aufständis­chen, „vielleicht gibt Gott doch, dass er wieder heimkehrt“. Nach dem Konzert sah ich Pfadfinder­kinder, die einen scherzende­n Aufständis­chen im Rollstuhl umringten. Ich wollte eines der Zehntausen­den Liederheft­e als Souvenir, suchte den verlassene­n Platz ab. Da war aber nicht einmal Müll. Diese Masse hinterließ einen sauberen Platz. Q

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