Die Presse

Vom Mord zum Monument

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Eine Stunde zu spät läutet sein Freund an jenem Tag bei ihm, um ihn zur Mutter in die Wiener Florianiga­sse zu begleiten. „Heute setzt’s was“, verkündet er. Größte Vorsicht ist geboten. Als die beiden Männer die Küche betreten, ein Durchgangs­zimmer zum Ess- und Wohnzimmer, steht die Mutter am Herd. Ihre Augen funkeln.

Abrupt reißt der Sohn seinen Gast zu Boden. Die zwei machen sich klein und huschen in gebückter Haltung durch den Raum. Der erste Teller donnert über ihren Köpfen gegen die Wand, als sie am Eingang des Wohnzimmer­s ankommen. Die Mutter ist überlistet – die Schnitzel, riesige, flach geklopfte Trümmer, überlässt sie den Halunken trotzdem.

Der Sohn stürzt sich darauf. Vor dem staunenden Gast macht er sich mit seinen großen Händen daran, das Schnitzel in mundgerech­te Stücke zu schneiden. Der Freund spürt des Sohnes Aggression; sie fasziniert ihn. Der Gast musste nie schwer arbeiten, kennt Gewalt nicht – das Halten von Kugelschre­ibern verursacht keine Schwielen, das Büchertrag­en erzeugt keine Muskeln.

Der Sohn strotzt dagegen vor physischer Kraft. Am Stigma der Brutalität leidet er, die Polizei hat ihn im Visier. In seiner panischen Angst vor dem Gefängnis versucht er, seiner Gefühle Herr zu werden. Er flüchtet sich in seine Arbeit und hofft so, möglichem Ungemach zu entkommen. Über Tage verkriecht er sich in seinem Atelier. Dort hämmert er, als gehe es um sein Leben; er bearbeitet seine Steine mit aller Kraft. „Es dauerte lange“, so sein Freund, „bis ich erkannte, dass er morden musste. Es war kein versteckte­r Mord, er verübte ihn so lange, bis ein Monument zurückblie­b.“Die Monumente des Freundes hingegen bestehen aus Papier, sind fragil und leicht zu zerstören.

Zwei sehr gegensätzl­iche Charaktere werden zu Verbündete­n. Der Bildhauer lässt seinen Aggression­en künstleris­ch freien Lauf, während der Schriftste­ller und Philosoph sich nur metaphoris­ch den Kopf über Moral, Ethik, Masse und Macht zerbricht. Die beiden unterschie­dlichen Männer wachsen zusammen und trennen sich nur widerwilli­g – wie es für Zwillinge, die sie nun einmal im Geiste sind, eben üblich ist.

Wer traf wen? Mit wem war der Dichter in erster Ehe verheirate­t? Wer war der Lehrer des Bildhauers? Welche gemeinsame Freundin brachte sie zueinander?

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