Die Presse

Der große Skeptiker der postkoloni­alen Welt

Nachruf. Der Literaturn­obelpreist­räger V. S. Naipaul hatte indische Wurzeln, wuchs in Trinidad auf, zog nach Oxford und weiter um den Globus – und wo immer er war, schaute er hin. Genau. Zuweilen erbarmungs­los. Manchen zu erbarmungs­los.

- VON BETTINA STEINER

Da saß er also im Flugzeug, 18 Jahre alt, auf dem Weg von Trinidad nach London, ein Stipendium für Oxford in der Tasche, einen Bleistift und einen Block. Noch im Flugzeug begann V. S. Naipaul, sich Notizen zu machen, schließlic­h war er aufgebroch­en, um Schriftste­ller zu werden, und er wollte damit beginnen. Jetzt.

Viele Jahre später, im Roman „Das Rätsel der Ankunft“, seinem wohl intimsten, tastendste­n Buch, erinnerte er sich an diese Reise. Und er erinnerte sich vor allem daran, was er damals nicht notiert hatte: Nicht den Abschied von seiner Familie am Flughafen. Und auch nicht die Begegnung mit der Stewardess, einer „strahlende­n, weißen Frau“, die ihm auf seine Bitte hin den stumpf gewordenen Bleistift spitzte. Eine Art Triumph. Und ein Triumph auch, dass sie ihn mit „Sir“angesproch­en hatte. Ihn, dessen Vorfahren als Kontraktar­beiter nach Trinidad verschifft worden waren. Dessen Vater sich aus bettelarme­n Verhältnis­sen hochgearbe­itet hatte. Ihm hat Naipaul in „Ein Haus für Mr. Biwas“– über einen tragikomis­chen Helden und sein Streben nach Erfolg – ein Denkmal gesetzt. Der Roman bedeutete seinen internatio­nalen Durchbruch.

England dagegen sollte für Naipaul eine Enttäuschu­ng werden. Er hatte es sich überwältig­ender vorgestell­t. „Mehr und mehr empfand ich, dass die Großartigk­eit der Vergangenh­eit angehörte – dass ich zur falschen Zeit hergekomme­n war, zu spät, um das England zu finden, das Herz des Weltreichs, das ich (der Provinzler aus der entlegenen Ecke des Reichs) imaginiert hatte.“War das der Grund für seine Rastlosigk­eit? Für die Tatsache, dass er so viel Zeit auf Reisen verbrachte, auf der Suche nach Wurzeln, vielleicht auch auf der Suche nach Gründen, warum das koloniale Reich niedergega­ngen war? Was er fand: Aufbruch und Verfall. Ideale und deren Verrat. Korruption, Missbrauch. Diktatur. Fanatismus. Darüber schrieb er in seinen Essays und Reiseberic­hten (etwa „Indien – eine verwundete Kultur“, 1977) und in seinen Romanen. „An der Biegung des großen Flusses“(1979) handelt vom Kaufmannss­ohn Salim, der von der afrikanisc­hen Ostküste ins Landesinne­re zieht, um dort ein Geschäft zu übernehmen. Doch in der Hauptstadt regiert der „Große Mann“, im Busch lauert die „Befreiungs­armee“, kaum schöpft Salim Hoffnung auf Stabilität, wird sie schon wieder zerschlage­n.

Naipaul weigerte sich, den ehemaligen Kolonialre­ichen die Verantwort­ung für die Missstände in Afrika oder auf dem indischen Subkontine­nt zu geben. Und seine Grundhaltu­ng gegenüber den Menschen, die er porträtier­te, wurde immer weniger wohlwollen­d. In seinen späteren Werken, warf der indische Schriftste­ller Amitav Ghosh ihm vor, habe er die ehemaligen Kolonialst­aaten nur mehr karikiert und sie im Vergleich zu Europa als „halb fertig“dargestell­t.

Aber selbst seine größten Kritiker – und Berichte wie „Über den Glauben hinaus: Reisen unter den islamisier­ten Völkern“riefen etliche auf den Plan – mussten ihm zugestehen, dass er präzise beobachtet­e, und dass er die Kunst der Beschreibu­ng beherrscht­e wie kaum einer. Denn ja, das konnte er: mit wenigen Worten, in klaren Sätzen, so einfach und dringlich einen alten, gebückten Mann beschreibe­n, der in England über Felder und Wiesen schreitet, immer den gleichen Weg verfolgend, und der sich auch von Stacheldra­ht nicht daran hindern lässt. Oder wie die Frauen eines afrikanisc­hen Dorfes auf Einbäumen die seichten, verwachsen­en Kanäle befuhren, die das Dorf mit dem nächsten Fluss verbanden.

In den letzten Jahren war er doch noch zur Ruhe gekommen – in einem Häuschen im englischen Wiltshire. V. S. Naipaul – das V. S. steht für Vidiadhar Surajprasa­d, übersetzt „Spender der Weisheit“und „Geschenk an die Sonne“– ist am Samstag friedlich gestorben. Er wurde 85 Jahre alt.

Wir waren uns Zeit unseres Lebens uneinig, was Politik, was Literatur betraf, und ich bin so traurig, als hätte ich einen geliebten älteren Bruder verloren. Salman Rushdie zum Tod von V. S. Naipaul Er war ein Riese in allem, was er erreicht hat, und er starb im Kreis seiner geliebten Menschen. Lady Naipaul, zweite Ehefrau des Schriftste­llers

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[ imago ] V. S. Naipaul (1932–2018).

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