Die Katastrophe von Genua wird zum Politikum
Nach der Tragödie beschuldigt die italienische Regierung die Betreibergesellschaft und die EU. Sie muss sich aber auch selbst unangenehme Fragen gefallen lassen.
37 Todesopfer klagen an. Aber wen? Die Wut der Italiener richtet sich gegen die Politik. Ausgerechnet die erst kürzlich in die Regierung gewählte FünfSterne-Bewegung hatte sich vor wenigen Jahren gegen ein Projekt gestellt, das die Brücke hätte entlasten sollen. Die Regierung will nun die Betreibergesellschaft bestrafen. Und Innenminister Matteo Salvini hat sogar einen Weg gefunden, die EU als Schuldige zu bezeichnen. Die strengen Defizitregeln würden Italien davon abhalten, notwendige Investitionen zu tätigen.
Die Wolken sind verzogen, die Sonne scheint am Mittwoch auf die Trümmer der Unglücksstelle in Genua, wo am Morgen noch immer Hunderte Helfer im Einsatz sind und nach Überlebenden und Opfern suchen. Elf Häuser wurden vorsorglich evakuiert, 440 Menschen sind an Ferragosto quasi wohnungslos. Dieser Tag, der 15. August, ist in Italien ein Feiertag, der Tag, an dem Familie und Freunde sich am Meer treffen, zusammen essen, feiern, das Leben und den Sommer genießen. Doch in diesem Jahr herrscht Staatstrauer an Ferragosto, Mariä Himmelfahrt. Das Unglück vom Vortag, als im norditalienischen Genua eine vierspurige Autobahnbrücke plötzlich zusammenbrach und mindestens 37 Menschen in den Tod riss, lähmt das Land.
Ein etwa 100 Meter langes Stück des Polcevera-Viadukts, das auch Ponte Morandi genannt wird, war am Dienstag aus mehr als 40 Metern Höhe in die Tiefe gestürzt. Neben dem Schock und der Trauer wird am Tag nach der Tragödie auch die Wut der Italiener immer lauter: Wie konnte das nur passieren?
Die Vize-Premiers Luigi Di Maio von der Fünf-Sterne-Bewegung und Matteo Salvini von der Lega haben ihren ersten Schuldigen schon gefunden: die Betreibergesellschaft Autostrade per Italia. Sie ist laut „Corriere della Sera“für 3020 Kilometer Autobahn und 1866 Brücken und Viadukte in Italien zuständig. Die Regierung werde die Firma zur Rechenschaft ziehen, die Auflösung des Vertrages mit Autostrade werde eingeleitet, sagt Verkehrsminister Danilo Toninelli an der Unglücksstelle. „Der Widerruf der Konzession ist das Minimum“, schreibt Innenminister Matteo Salvini auf Facebook. Luigi Di Maio, Minister für Arbeit und wirtschaftliche Entwicklung, spricht von „mindestens 150 Millionen Euro Strafe“. Verkehrsminister Toninelli forderte außerdem die Führungsriege des Unternehmens auf zurückzutreten.
„Sicherheit vor EU-Defizitregeln“
Und noch einen Schuldigen machte Salvini bereits am Dienstagabend aus: die Europäische Union. Die Sicherheit der Italiener gehe vor EU-Defizitregeln. Sein Vorwurf: Durch die strengen Haushaltsregeln, die die EU Italien alljährlich auferlegt, damit das Land von seinem Schuldenberg herunterkommt, hätten nötige Investitionen nicht getätigt werden können. Der Einsturz der Brücke zeige, wie wichtig es ist, mehr Geld in die Hand zu nehmen. „Wenn äußere Zwänge uns davon abhalten, in sichere Straßen und Schulen zu investieren, dann müssen wir wirklich hinterfragen, ob es Sinn macht, diese Re-
geln zu befolgen.“Dabei kann es am Geld nicht gelegen haben: Gerade in den Ponte Morandi wurde viel investiert, erst 2016 wurde die Brücke einer Generalüberholung unterzogen. Auch zum Zeitpunkt der Tragödie waren Bauarbeiten im Gange.
Politisch steckt viel hinter den Aussagen Salvinis: Bis zum 15. Oktober muss Italien der EU-Kommission seinen Haushaltsentwurf für das kommende Jahr vorlegen. Schon in den vergangenen Jahren ging damit das Geschacher los, wie weit die Defizitgrenze ausgereizt werden darf. Italien ächzt noch immer unter einem Schuldenberg von 2300 Milliarden Euro, was einem Defizit von rund 132 Prozent des Bruttoinlandproduktes entspricht – erlaubt sind 60 Prozent. Daher schaut die EU immer ganz genau, wie viel Geld Italien plant auszugeben. Di Maio und Salvini fordern ein Aussetzen der EU-Regeln nach dem Maastricht-Vertrag, um Ausgaben zu erhöhen und die Steuern zu senken.
Zu viel Verkehrsaufkommen
Doch gerade die Partei von Di Maio, die populistische Fünf-Sterne-Bewegung, die vor etwa zehn Jahren vom Ex-Komiker Beppe Grillo ins Leben gerufen wurde, muss sich nach dem Unglück Vorwürfe gefallen lassen. Denn Kritik gab es an dem eingestürzten Polcevera-Viadukt schon lange. Kostspielige Renovierungen sorgten immer wieder für Diskussionen. Die Brücke, die im Westen von Genua unter anderem über Gleisanlagen und ein Gewerbegebiet führt, wurde in den 1960er-Jahren erbaut. Laut Experten war sie dem heutigen Verkehrsaufkommen mit etwa 5000 Lkw pro Tag nicht gewachsen.
Bereits in den 1980er-Jahren kam die Idee auf, den Ponte Morandi daher mit einem neuen Autobahnzubringer zu entlasten. Das Projekt mit dem Namen „Gronda“, in Anlehnung an das italienische Wort „grondaia“für Regenrinne, wurde aber von Anwohnern und Umweltverbänden abge- lehnt. Und auch die Fünf-Sterne-Bewegung sprach sich 2013 gegen eine solche Alternativlösung aus. Ein Video, das die Zeitung „La Repubblica“am Mittwoch aus dem Archiv holte, zeigt den Gründer der Bewegung im Jahr 2014, wie er in Rom auf dem Circus Maximus eine leidenschaftliche Rede schwingt. Gegen die „Gronda“in Genua, die nur eine Verschwendung öffentlicher Gelder vonseiten der Regierung wäre. „Wir müssen sie stoppen“, ruft er in die Menge, „wir müssen sie mit der Armee stoppen.“Und Paolo Putti, ebenfalls von den Fünf Sternen, schiebt auf der Bühne hinterher: „Zu uns hat die Firma Autostrade gesagt, dass die Brücke weitere 100 Jahre stehen bleiben wird.“Vier Jahre später brach sie in sich zusammen.
Premierminister Giuseppe Conte versprach den Italienern nun, die Regierung werde einen außerordentlichen Plan zur Kontrolle der Infrastruktur voranbringen. Laut der Zeitung „La Repubblica“sind um die 300 Brücken und Tunnel in Italien marode, eine veraltete Infrastruktur und eine lückenhafte Instandhaltung die Hauptprobleme. Und das Unglück von Genua ist kein Einzelfall. Im März 2017 war die Brücke über die Autobahn A14 während Instandhaltungsarbeiten eingestürzt, zwei Menschen starben. Wenige Monate zuvor war Ende Oktober 2016 eine Schnellstraßenüberführung zwischen Mailand und Lecco in sich zusammengebrochen, nachdem ein genehmigter Schwertransporter darübergefahren war.
Um die Ursache des Einsturzes der Morandi-Brücke in Genua herauszubekommen, hat die Staatsanwaltschaft der Stadt Ermittlungen eingeleitet. Der Staatsanwalt sagte, er schließe einen schicksalhaften Einsturz aus. Experten sehen derweil keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Unwetter, das zum Zeitpunkt des Einsturzes über der Brücke und der Stadt wütete, und ein Blitz, der kurz vor dem Einsturz in die Brücke gefahren war, etwas mit der Tragödie zu tun haben könnte.