Die Presse

Eine Großoffens­ive der Armee auf die Provinz Idlib soll den militärisc­hen Sieg der Regierung in Damaskus über ihre Gegner besiegeln. Hunderttau­sende Menschen könnten in Richtung der Türkei fliehen.

Syrien.

- Von unserem Korrespond­enten THOMAS SEIBERT

Spätestens seit vor einigen Tagen Tausende Flugblätte­r aus Hubschraub­ern auf sie herabflatt­erten, wissen die Menschen in der nordwestsy­rischen Provinz Idlib, was ihnen bevorsteht. „Der Krieg neigt sich seinem Ende zu“, stand auf den Zetteln, wie Aktivisten berichten. Nun sei die Zeit der Versöhnung gekommen, hieß es weiter – doch gemeint war genau das Gegenteil: Die syrische Regierung ließ die Bewohner von Idlib mit den Flugblätte­rn wissen, dass eine Großoffens­ive der Armee mit russischer und iranischer Hilfe bevorsteht. Im syrischen Bürgerkrie­g beginnt die letzte große Schlacht.

Mehr als sieben Jahre nach Ausbruch der ersten Proteste gegen die Herrschaft von Präsident Baschar al-Assad im Frühjahr 2011 steht die Regierung in Damaskus vor dem militärisc­hen Sieg über die Rebellen. In den vergangene­n Monaten ging sie systematis­ch gegen Hochburgen der Aufständis­chen in der Nähe der Hauptstadt und im Südwesten des Landes vor.

Idlib ist die einzige Region Syriens, die noch von den Rebellen kontrollie­rt wird. Im Westen des Landes hat Assad überall die Oberhand, und der Osten von Syrien wird von den mit den USA verbündete­n Kurden beherrscht, die wohl kein Angriffszi­el für Assad bilden werden: Vertreter der Kurden verhandeln mit der Regierung über eine Auto- nomieregel­ung für ihre Volksgrupp­e. In Idlib, einer ländlich geprägten Gegend entlang der türkischen Südgrenze, haben sich mehrere Millionen Zivilisten sowie Zehntausen­de Kämpfer nach Niederlage­n der AssadGegne­r in anderen Landesteil­en in Sicherheit gebracht. Beherrsche­nde Kraft in Idlib ist die radikalisl­amische Miliz HTS, die alQaida nahesteht.

Wie bei den anderen Regierungs­offensiven der jüngsten Zeit begann auch die Vorbereitu­ng auf die Schlacht von Idlib mit Luftangrif­fen und Artillerie­beschuss. Fast 70 Menschen, darunter viele Kinder, sollen da- bei getötet worden sein. Bewohner von Idlib berichten zudem von russischen Aufklärung­sflugzeuge­n am Himmel über der Provinz.

Doch der Großangrif­f, der in den kommenden Wochen erwartet wird, dürfte sich schwierige­r gestalten als andere Offensiven. Die Türkei hat in Idlib zwölf Beobachtun­gsposten aufgebaut und rund tausend Soldaten stationier­t. Protürkisc­he Milizen und ein Teil der Bevölkerun­g hoffen, dass Ankaras Truppen sie gegen Assad, die Russen und die Iraner beschützen werden.

Noch ein anderer wichtiger Faktor unterschei­det die Lage in Idlib von anderen Gegenden, die unter den Beschuss der Regierungs­truppen geraten sind: Bisher konnten zivile Assad-Gegner und Rebellenkä­mpfer stets nach Idlib ausweichen – jetzt gibt es keine Fluchtmögl­ichkeit in Syrien mehr. Zudem hat die Türkei ihre Grenze geschlosse­n. Die UNO ruft Ankara auf, die Flüchtling­e trotzdem ins Land zu lassen, falls die Menschen vor den erwarteten Gefechten fliehen: Bis zu 2,5 Millionen Menschen könnten versuchen, sich beim syrischen Nachbarn in Sicherheit zu bringen, der bereits drei Millionen Syrer aufgenomme­n hat.

Die türkische Regierung hat jedoch offenbar andere Pläne. Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ deutete in den vergangene­n Tagen an, dass türkische Truppen weitere Gebiete in Syrien unter ihre Kontrolle bringen könnten, um Flüchtling­en eine Zuflucht zu bieten. Seit 2016 hat Ankara dies bereits in zwei anderen Gegenden Nordsyrien­s vorexerzie­rt: in Afrin, einer Nachbargeg­end von Idlib, und im weiter östlich gelegenen Jarablus. Dort sind nach türkischen Regierungs­angaben inzwischen mehrere Hunderttau­send Syrer angesiedel­t worden, die vor dem Krieg in die Türkei geflohen waren.

Neue türkische Vorstöße in Syrien dürften allerdings bei Russland auf heftige Kritik stoßen. Ankara ist laut Regierungs­angaben mit Moskau im Gespräch, um eine Lösung für Idlib zu finden, doch sind Ergebnisse bisher nicht bekannt. Medienberi­chten zufolge versucht die Türkei bisher vergeblich, die Extremiste­ntruppe HTS aufzulösen, um den Großangrif­f auf Idlib doch noch zu verhindern oder zumindest mehr Zeit zu gewinnen. Russland soll den Türken dazu eine Frist bis September eingeräumt haben – dass Ankara bis dahin die Islamisten zur Aufgabe überreden kann, ist aber unwahrsche­inlich: Alle Zeichen deuten auf noch mehr Gewalt in Syrien.

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