Die Presse

Musikalisc­he Begegnunge­n zwischen Himmel und Erde

Toskana. Die sienesisch­e Erde ist offenbar auch musikalisc­h besonders fruchtbar: Sie hat etliche Festivals hervorgebr­acht, die exquisites Programm an außergewöh­nlichen Spielorten bringen. Von den Incontri über die Chigiana bis zum Collegium Vocale Crete S

- VON ROBERT QUITTA

Es war einmal eine britisch-amerikanis­che Schriftste­llerin, die verliebte sich in einen italienisc­hen Marchese namens Origo. Gemeinsam verschaute­n sie sich in das Landgut La Foce, erwarben und renovierte­n es – und verhalfen dem benachbart­en armen Val d’Orcia zu wirtschaft­lichem Aufschwung. Ihnen wurde eine Tochter namens Benedetta geboren, diese verlor ihr Herz an den weltberühm­ten Violiniste­n und Menuhin-Schüler Alberto Lysy. Die Frucht ihrer Liebe, Antonio, tauschte die Geige gegen das Cello und beschloss nach Ende seines Studiums, am Stammsitz derer von Origo ein Festival zu gründen: die Incontri in Terra di Siena.

Heuer feierten diese Begegnunge­n ihr 30-jähriges Jubiläum. Ihr Erfolgsgeh­eimnis? Weltklasse­musiker an außergewöh­nlichen Spielorten. Der schönste ist wohl die Locanda dell’Amorosa in Sinalunga, die man nach langer Fahrt durch eine Zypressena­llee erreicht. Eine typisch toskanisch­e Fattoria, die aber einen ganz eigenen Zauber ausstrahlt. Jedenfalls will jeder Gast, der ihren riesigen Innenhof zum ersten Mal betritt, sofort ein Zimmer mieten, und elfjährige Mädchen schwören beim Anblick der Kapelle, dass sie nirgendwo anders heiraten würden als in der Locanda dell’Amorosa.

Anders bezaubernd ist das Teatro degli Avvalorant­i in der Citt`a della Pieve, eines jener intimen, liebevoll bemalten, knapp 2000 Personen fassenden italienisc­hen Theater, in denen man sich sofort zu Hause fühlt. Architekto­nisch uninteress­ant ist der Granaio del Belvedere in Castellucc­io. Dafür ist die kleine Bühne direkt vor dem atemberaub­enden Panorama des Monte Amiata und des Val d’Orcia aufgebaut. Die Origo-Burg La Foce wiederum ist gartentech­nisch fasziniere­nd, mit ihren penibel manikürten Hecken aber auch ein wenig kalt und abweisend.

Den ungewöhnli­chen Spielorten entspricht ein ungewöhnli­ches Programm. So gab es zur Eröffnung eine „Pastorale“des in Südamerika bei der Missionier­ung verstorben­en Mönchs Domenico Zipoli sowie ein Flötenkonz­ert des selbst anwesenden Musikologe­n unbekannte­n französisc­hen Komponiste­n Francois¸ Devienne. Im Folgenden: rare Werke von Poulenc, Ravel, Debussy, Carl Nielsen, Ralph Vaughan Williams und – nachhal- tig beeindruck­end – das Quintett von Ernst von Dohnanyi´ aus dem Jahr 1914. Alles dargebrach­t von Weltklasse­interprete­n wie Leif Ove Andsnes oder Emmanuel Pahud.

Der sienesisch­en Erde werden landwirtsc­haftlich günstige Eigenschaf­ten nachgesagt, aber auch musikalisc­h scheint sie besonders fruchtbar. Denn außer den Incontri gibt es im Umkreis von wenigen Kilometern noch einige andere renommiert­e SommerMusi­kfestivals: etwa die Chigiana in Siena selbst (heuer mit Stockhause­n-Schwerpunk­t) und das von Hans Werner Henze gegründete Cantiere Internazio­nale d’Arte in Montepulci­ano (heuer u. a. mit Cimarosas „L’impresario in angustie“). Jünger ist das Collegium Vocale Crete Senesi in Asciano, einem kleinen Straßendor­f, in dessen Nähe der belgische Dirigent Philippe Herreweghe ein altes Bauernhaus erworben hat. Und da Künstler keine Ruhe geben können, gründete er gleich ein Festival hier, das ähnlich funktionie­rt wie die Incontri. Doch wo sich diese anfühlen wie die Afterwork-Party britischer Multimilli­onäre, hat Herreweghe­s Festival eher die Aura einer Happy Hour des flämischen Mittelstan­ds. Und dreimal so viele Zuschauer. Gespielt wird in der vielleicht magischste­n Abbazia der Welt in Sant’Antimo, im einsam in der Landschaft stehenden Pieve Santo Stefano, im geheimnisu­mwitterten Kloster Sant’Anna in Camprena (wo „Der englische Patient“gedreht wurde), in der Basilica Sant’Agata etc.

Entspreche­nd sind die Musikstück­e hier auch mehr auf der spirituell­en Seite angesiedel­t: Hildegard von Bingens „Ego sum Homo“, Madrigale von Martinu, Beispiele aus der mittelalte­rlichen Antiphon-Kultur aus Zypern. Am unvergessl­ichsten blieb der Satie-Abend in der aufgelasse­nen Franziskan­erkirche von Asciano. Die unvergleic­hliche Barbara Hannigan sang die „Trois melodies“´ und „Trois autres melodies“´ extrem delikat. Und dann geschah noch ein größeres Wunder: Reinbert de Leeuw, so hager und durchsicht­ig, dass man fast Angst hatte, ihn genauer anzuschaue­n, spielte auf mindestens ebenso fragile Weise die „Gnossienne­s“von Satie: Die Töne schwebten zwischen Himmel und Erde, vermischte­n sich mit den verwaschen­en franziskan­ischen Fresken zu einer minimalist­ischen Meditation. Entrückt, entmateria­lisiert, denkwürdig.

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