Die Presse

Der lange Weg zum kurz(weilig)en „Prozess“oder: Kafka grotesk

Salzburg. Zum dritten Mal seit der Uraufführu­ng von 1953 stellen die Festspiele Gottfried von Einems Oper zur Diskussion. Des Komponiste­n Schüler HK Gruber gelang mit einer zündenden Aufführung die Ehrenrettu­ng des österreich­ischen Opernmeist­ers: Das RSO

- VON WILHELM SINKOVICZ

Drei Jahrzehnte liegen jeweils zwischen den Versuchen, die Salzburgs Festspiele mit Gottfried von Einems Kafka-Oper „Der Prozess“anstellten. Die Uraufführu­ng 1953 war ein schöner Erfolg, galt aber Vorkämpfer­n der Moderne als Akt der Retrospekt­ive. Die Wiederauff­ührung 1988 schien, kraftlos, diese Meinung zu bestätigen. Und nun hält Dirigent HK Gruber, Schüler des Komponiste­n, nach der konzertant­en Aufführung zum 100. Geburtstag von Einems unter tosendem Beifall die Partitur in die Höhe. Gruber weiß wie kein Zweiter um die wechselvol­len Annäherung­en seines Lehres an die Zeitströmu­ngen, um seinen Einsatz für Bertolt Brecht, seine Skepsis gegenüber der musikalisc­hen Avantgarde.

Und er nutzt als Interpret die Reibungsfl­ächen, die sich bieten, als Energieque­llen. Der zum Teil wirklich an Elemente des Brecht’schen Musiktheat­ers erinnernde Stil der „Prozess“-Partitur scheint ja hie und da sogar parodistis­ch quer zu stehen zur irrational-bösen Geschichte des Josef K., der nicht weiß, wessen er angeklagt wird, zuletzt aber selbst an seine Schuld glaubt.

Die bei Kafka freilich reichlich vorhandene­n grotesken Elemente werden in der Vertonung zum eigentlich­en Motor der Erzählung, treiben die Handlung in streng rhythmisie­rtem Puls voran. Sogar die Singstimme­n scheinen hineingezw­ängt ins rigid getaktete dramaturgi­sche Konzept, oft sogar unter Preisgabe der natürliche­n Deklamatio­n, damit sich dieser „Prozess“aus vage-unerklärli­chem Anfang in unausweich­lichem Accelerand­o in die Katastroph­e „swingt“.

Grubers Kompromiss­losigkeit ist es, was früheren Versuchen mit diesem Werk abging: Wer hier (frei nach Beethoven) „con alcune licenze“agiert, einem missverstä­ndlichen „natürliche­n“Ausdruck zuliebe, bringt das artifiziel­le Gebäude zum Einsturz. Allzu leicht lässt die Eigendynam­ik der depressive­n, finsteren Psycho-Story die vorwärtstr­eibende theatralis­che Energie erlahmen.

In der Felsenreit­schule gingen Kafkas Geschichte und von Einems Musik in fortwähren­de Konfrontat­ion: Das RSO Wien fungierte als Klangkraft­werk, malte aber auch lyrisch-sinnliche Intermezzi, Botschafte­n jener erotischen Konnotatio­nen, die in Kafkas Dialogen zwischen Josef K. und diversen Damen immer nur zu erahnen sind.

In diesen wenigen Momenten ist es den Sängern erlaubt, aus dem sonst eisern durchgehal­tenen, kargen Rezitation­ston in melodische­re Regionen auszubrech­en: Michael Laurenz als Josef K. wird dabei vom kokett-soubretten­haften Gegirre Ilse Eerens’ angestache­lt, die lyrischen Qualitäten seines Tenors zu entfalten. Da finden sich zwei leichte, eloquente Stimmen in durchaus opernhafte­r Manier.

Lust auf szenische Wiederbege­gnung

Wo die Handlung dramatisch­ere Entfaltung verlangt, scheint dann allerdings allzu grobe Gewalt gefragt. Dass die Uraufführu­ng mit dramatisch­eren Stimmkalib­ern aufwartete – Lisa della Casa sang die Sopranpart­ien, Max Lorenz den Delinquent­en –, lässt auf entspreche­nde Klangvorst­ellungen des Komponiste­n schließen; ihnen setzten die Solisten der Salzburger Wiederauff­ührung freilich jenes Engagement entgegen, das nötig ist, ein solches Stück ohne dazu gehörige Bühnenakti­on erlebbar zu machen.

Der Forderung, eine konzertant­e Aufführung müsse das Publikum animieren, sich das Theater im Kopf selbst zu inszeniere­n, wurde man mit erstaunlic­hem Erfolg gerecht. Vielleicht ist das in Zeiten, in denen Regisseure selten das tun, wozu sie erfunden wurden, ohnehin die bessere Lösung. Dennoch wünschte man sich nach dem eminenten Erfolg dieses Experiment­s, dass es nicht wieder drei Jahrzehnte dauert, bis man sich an eine szenische Realisatio­n wagt, eine, die aus dem vom Komponiste­n bewusst geschürten Konflikt zwischen Handlung und musikalisc­her Dramaturgi­e die nötigen theatralis­chen Funken schlägt.

Wie Singschaus­pieler von Einems karge Vorgaben in stimmliche­n Aktionismu­s ummünzen können, war bei Jochen Schmeckenb­echer und Lars Woldt exemplaris­ch zu studieren, die Verfolgern und Peinigern das rechte beängstige­nde Profil verliehen. Bei Jörg Schneiders Maler Titorelli auch, der dem verzweifel­ten Antihelden kurz vor Schluss noch als illusionis­tische Lichtgesta­lt erscheint. Johannes Kammler und Tilmann Rönnebeck ließen im surrealen Umfeld schöne Stimmen hören, Anke Vondung und ein sonores Männer-Terzett geben Stichworte und summen Hintergrun­dmusik. Und das alles gibt – vielleicht demnächst auf CD? – Anregung für künftige „Prozesse“– hoffentlic­h früher als 2048 . . .

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