Vom Leben und vom Überleben
„Wenn man sich von der Schönheit der Berge ab- und dem Horror des Mauthausen genannten Lagers zuwendet, erklärt das Hirn das eine für real, das andere nicht – und dass die Welt nicht gleichzeitig derartige Extreme beherbergen kann.“Der amerikanische Elme
Die Behörden von Madison wissen mit dem aufgeregten jungen Mann nichts anzufangen. Schon bei seiner Festnahme muss er mit Gewalt abgeführt werden, dann zahlt er zwar die über ihn verhängte Geldstrafe, benimmt sich aber immer noch renitent. Also überweist ihn das Gericht des US-Bundesstaats Wisconsin einen Tag nach seiner Festnahme am 8. Juni 1932 „zur Beobachtung“in eine Nervenheilanstalt. Dort wird schnell eine Diagnose ausgefertigt: „Psychopathy.“Ein Student, der bei einer Demonstration von Arbeitslosen auftritt, ist suspekt. Ein Agitator, der der Polizei den Gehorsam verweigert und sich lieber inhaftieren lässt, als seine Rede zu unterbrechen, kann nicht bei Verstand sein. Der renitente Student ist Elmer Luchterhand. Die Erfahrung der eigenen Einsperrung sollte ihn nicht mehr loslassen. Zehn Jahre später wird der Enkel deutscher Einwanderer als Nachrichtenoffizier der US Army durch befreite Konzentrationslager reisen, Interviews mit KZ-Überlebenden führen und mit einer der ersten Arbeiten zum Alltag in den Konzentrationslagern eine soziologische Karriere in New York beginnen.
Aufgewachsen ist Luchterhand auf einer Farm in Colby, Wisconsin. Aufgrund seiner Herkunft nennen ihn die lokalen Zeitungen nach seiner Festnahme im Juni 1932 einen farmboy communist. Die Weltwirtschaftskrise betrifft zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr nur die Arbeiterschaft der Industriezentren. Auch in Wisconsin steigt die Arbeitslosigkeit, die Bauern geraten aufgrund des sinkenden Milchpreises in Bedrängnis, die sinkenden Löhne führen zu Streiks und Demonstrationen – der junge Luchterhand erfährt in diesem Umfeld seine politische Sozialisierung. Als Luchterhand für verrückt erklärt wird, kommt es zum Aufruhr. Hunderte Studierende und Lehrende seiner Universität protestieren neben Mitgliedern der Kommunistischen Partei für seine Freilassung, die zehn Tage später auf richterliche Anweisung tatsächlich erfolgt. Natürlich mit der passenden Diagnose: „Improvement.“
Luchterhands Aktivismus richtet sich schon bald gegen die in den USA stärker werdenden Nazis. In Wisconsin, wo mehr als ein Drittel der Bevölkerung deutsche Wurzeln hat, formieren sich die Auslandsnationalsozialisten. Der Bauernsohn Luchterhand bekämpft diese deutschamerikanischen Nazis mit allen Mitteln. Er entwendet Hakenkreuzfahnen und verursacht Handgemenge.
Im März 1943 wird Luchterhand eingezogen. Bei seiner Einberufung macht der 32-Jährige journalistische Erfahrungen geltend. Seine Einheit, eine Infanteriedivision, stellt ihn für nachrichtendienstliche Tätigkeiten ab. Zunächst verhört er deutsche Kriegsgefangene und schreibt Berichte von der Front, später steigt er zum Leiter der Öffentlichkeitsarbeit seiner Einheit auf. Bis Kriegsende zieht seine Division vom besetzten Frankreich über diverse deutsche Städte bis nach Linz und Enns, wo sie stationiert bleibt. Auf ihrem Weg kommt sie an zahlreichen befreiten Konzentrationslagern vorbei. Für die meist sehr jungen GIs ist die Befreiung der Konzentrationslager ein Schock, nicht selten traumatisierend. hen haben, die von den nächtlichen Verbrennungen herrührten, wie auch die Rauchwolke, die tagelang über dem Tal hing. Sie musste wie alle anderen manchmal dem langen Zug der in Zebrakleidung gehüllten Häftlinge begegnet sein, der zum Hügel ging oder von ihm zurückkam.“Was wusste die Bevölkerung von den Konzentrationslagern, die wie ein Netz Deutschland und Österreich überzogen? Es ist eine Frage, die die Forschung noch Jahrzehnte später beschäftigen wird.
Am 20. Mai betritt Luchterhand das befreite KZ Mauthausen. Er berichtet seiner Frau Patsy nach Chicago, dass der Blick vom Lager auf die Donau und die dahinterliegenden Berge einen gedanklichen Spagat erfordere: „Wenn man sich von der wilden Schönheit der schneebedeckten Berge, der großartigen Flüsse und üppigen Fichtenwälder ab- und dem unglaublichen Horror und Wahn des Mauthausen genannten Lagers zuwendet, erklärt das Hirn das eine für real, das andere nicht – und dass die Welt nicht gleichzeitig derartige Extreme an Schönheit und Hässlichkeit beherbergen kann.“
Er schreibt von den wunderbaren Menschen, die dieses Lager überlebt hätten, von ihrer Zuversicht, ihrem Mitgefühl und ihrem Lächeln. Doch das ist nur die eine Seite, die er erfährt. Spätestens in Mauthausen wird ihm klar, dass zwei Welten aufeinanderprallen, wenn Überlebende berichten – das Erlebte scheint unvermittelbar. Das merkt Luchterhand etwa im Gespräch mit Wilhelm Ornstein, der im „Krematoriumskommando“täglich Leichen verbrennen musste. Für Ornstein ist das Interview das erste Gespräch mit jemandem aus der Außenwelt. Anfangs selbstsicher und euphorisch berichtend, plagen ihn plötzlich Schuldgefühle; die verinnerlichten Lagernormen prallen auf die amerikanischen Maßstäbe. Ornstein verstummt. Luchterhand versucht, Ornsteins Selbstwertgefühl wiederherzustellen und bricht das Interview ab. Die methodologische Grundfrage bleibt im Raum stehen: Wie interviewt man Überlebende dieses Wahnsinns?
Zurück in den USA nimmt er Kontakt mit den Überlebenden auf, die er bereits interviewt hat. 52 Personen wird er für seine Dissertation aufsuchen, vom polnischen Mechanikergehilfen über den österreichischen Psychoanalytiker bis zur jüdischen Konzertpianistin: Es sind Männer und Frauen, die alle möglichen Lager durchlebt hatten, aus verschiedensten sozialen Schichten und Ländern kamen. Luchterhands zentrale Schlussfolgerung ist ebenso einfach wie provokant: Nicht die „einsamen Wölfe“, die egoistischen „Speckjäger“hätten überlebt, sondern jene, die sich in Paaren organisiert hätten. Damit richtet er sich gegen den österreichischen Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der Ersteres behauptet hatte – und dem darin weithin gefolgt wurde. Stabile Paare, so Luchterhand, seien die Basiseinheit des Überlebens gewesen, oft seien die Partnerinnen und Partner geradezu inkompatibel gewesen. Nach ihren besten Freundinnen und Freunden im Lager gefragt, nennen zahlreiche Interviewte Prostituierte und Diebe, „Arbeitsscheue“und „Rasseschänder“. Wenn sie starben oder in andere Lager transportiert wurden, wurden sie schnell durch andere ersetzt.
Die plakativ wirkende These, dass Kooperation überlebensnotwendig war, untermauert er auf vielfältige Art. Selbstmorde, so schildern die Interviewten, seien so gut wie nie vorgekommen, und wenn, dann zu Beginn der KZ-Haft. Auch Diebstahl sei nach einer gewissen Zeit im Lager nicht mehr vor- gekommen. „Ich begann, öfter an Gott zu denken. Wenn er mich retten wollte, konnte er das auch ohne ein weiteres Stück Brot machen“, das er anfangs gestohlen habe, so der Interviewte „Edward“. Doch hinter der Begründung, hinter dem vordergründig individuellen Verhalten erkennt Luchterhand das Entstehen eines prisoner codes, eines Wertesystems und einer Sozialordnung. Das Verhalten der „Konzentrationäre“lasse sich nicht psychologisch erklären, sondern nur soziologisch, durch handlungsleitende Normen, die sich hinter dem Rücken der Befragten herausgebildet hätten. „In der allernächsten Aussage beschreibt der Informant“, ergänzt Luchterhand auf dem Protokoll, „dass die Häftlinge einen Dieb mit Stricken prügelten und drei Nächte lang mit kaltem Wasser übergossen, bis er starb.“
Die Selbstjustiz der Häftlinge regelte das Verhalten, glaubt er, nicht der Gedanke an Gott. Diebstahl wurde bald nicht mehr verübt, weil der „alte“Häftling das „Organisieren“lernt, bei dem er SS-Eigentum entwendet oder mit Zivilarbeitern tauscht, niemals aber seinen Mithäftling bestiehlt.