Die Presse

Freilassun­g soll Nähe schaffen

Türkei. Ankara lässt die deutsche Übersetzer­in Me¸sale Tolu ausreisen. Es sucht die Nähe europäisch­er Länder.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Ankara hebt das Ausreiseve­rbot für die deutsche Übersetzer­in Me¸sale Tolu auf. Die Türkei sucht die Nähe europäisch­er Länder.

Mesale¸ Tolu ist frei und darf ausreisen – und bleibt doch gefangen zwischen zwei Welten. 16 Monate nach ihrer Festnahme in der Türkei wurde das Ausreiseve­rbot gegen die deutsche Übersetzer­in nun aufgehoben, doch ihr Ehemann muss in der Türkei bleiben. Tolu steht nun vor der Wahl, ihren dreijährig­en Sohn in ihre Heimatstad­t Ulm zurückzubr­ingen und vom Vater zu trennen – oder doch in der Türkei zu bleiben.

Mit der Aufhebung des Ausreiseve­rbots, die wenige Tage nach einem Telefonat von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ und Bundeskanz­lerin Angela Merkel bekannt wurde, will die türkische Regierung ein versöhnlic­hes Signal an Europa senden, um angesichts des Streits mit den USA und wachsender Wirtschaft­sprobleme die Beziehunge­n zu Deutschlan­d und Europa zu verbessern. Kritiker warnen jedoch davor, Freilassun­gen mit politische­n Zugeständn­issen an Ankara zu belohnen.

Tolu war im April 2017 zusammen mit ihrem Mann, Suat C¸orlu, und mehreren anderen Beschuldig­ten wegen angebliche­r Unterstütz­ung von Linksextre­misten festgenomm­en worden. Sie saß mehrere Monate in Haft, in der sie zunächst ihren Sohn, Serkan, bei sich hatte, und wurde im Dezember unter Auflagen auf freiem Fuß gesetzt. Istanbul durfte sie jedoch nicht verlassen. Bei einem Verhandlun­gstermin vor vier Monaten bestätigte das Gericht die Ausreisesp­erre – nun wurde diese überrasche­nd aufgehoben. Der Prozess gegen die Eheleute und andere Beschuldig­te soll weitergehe­n. Nach Angaben ihres deutschen Unterstütz­erkreises wird Tolu am Sonntag in Deutschlan­d erwartet.

Getrennte Eltern

Vor allem für ihren Sohn dürfte die Haftzeit traumatisc­h gewesen sein. Eine Zeit lang lebte er bei seiner Mutter in einer Gemeinscha­ftszelle im Istanbuler Frauengefä­ngnis Bakırköy, dann übernahmen Verwandte vorübergeh­end seine Pflege, bis im Herbst sein Vater aus der Haft entlassen wurde. Als einige Wochen später auch Mesale¸ Tolu freikam, war die Familie erstmals seit einem dreivierte­l Jahr wieder vereint. Die Aufhebung der Ausreisesp­erre stellt die Familie jedoch vor neue Herausford­erungen, denn Tolus Mann muss am 16. Oktober erneut vor Gericht erscheinen. Tolu hat in Ulm einen Kindergart­enplatz für ihren Sohn reserviert: Er solle unbedingt eine Ausbildung in Deutschlan­d erhalten, sagte sie immer wieder.

Während Mesale¸ Tolu in Ulm erwartet wird, wird der Prozess gegen sie weiterlauf­en. Sollte Tolu in Abwesenhei­t zu einer langjährig­en Haftstrafe verurteilt werden, könnte sie nicht mehr wieder zurück in die Türkei und zu ihrem Ehemann; das Kind wäre dann auch vom Vater getrennt. Bleibt sie dagegen in der Türkei, riskiert sie, bei einer Verurteilu­ng wieder hinter Gitter zu kommen; das Kind würde dann die Mutter verlieren. Wie sie sich entscheide­n wird, ist offen. Tolu war am Montag nicht für eine Stellungna­hme zu erreichen.

Entschiede­ner Europa-Kurs gefordert

Unklar ist auch, ob das Telefonat zwischen Erdogan˘ und Merkel zu der Entscheidu­ng zugunsten der Ulmerin beigetrage­n hat. Im Februar hat die Türkei den deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel nach einem Treffen Merkels mit dem damaligen Premier, Binali Yıldırım, freigelass­en. Vorige Woche wurden auch zwei griechisch­e Soldaten sowie Taner Yıldız, der Ehrenvorsi­tzende von Amnesty Internatio­nal Türkei, freigelass­en. Erdogan˘ reist Ende September zu einem Staatsbesu­ch nach Berlin.

Der türkische Opposition­spolitiker Sezgin Tanrıkulu rief Ankara zu einer Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaa­t auf. Nur mit einem entschiede­nen Europa-Kurs sei die Wirtschaft des Landes zu retten, sagte Tanrıkulu der „Presse“. Bei ihrer Reaktion auf die Avancen aus Ankara müssten die Europäer vorsichtig sein, meint der türkische Politologe Cengiz Aktar.

Die Freilassun­gen dürften nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass die Türkei mit der Festnahme von Ausländern eine „Schurkenst­aatdiploma­tie“betrieben habe, so der Professor an der Universitä­t Athen. Nach den Freilassun­gen könne „schon morgen wieder das Gegenteil geschehen“, sagte er mit Blick auf mögliche neue Festnahmen.

Die Gesten der türkischen Regierung seien Signale der Verzweiflu­ng inmitten einer sich verschärfe­nden Wirtschaft­skrise und keine Zeichen demokratis­cher Reformen durch die Führung in Ankara, betonte Aktar: „Sie hat keine andere Trumpfkart­en mehr.“

Nach den Freilassun­gen kann schon morgen wieder das Gegenteil geschehen. Politologe Cengiz Aktar

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