Freilassung soll Nähe schaffen
Türkei. Ankara lässt die deutsche Übersetzerin Me¸sale Tolu ausreisen. Es sucht die Nähe europäischer Länder.
Ankara hebt das Ausreiseverbot für die deutsche Übersetzerin Me¸sale Tolu auf. Die Türkei sucht die Nähe europäischer Länder.
Mesale¸ Tolu ist frei und darf ausreisen – und bleibt doch gefangen zwischen zwei Welten. 16 Monate nach ihrer Festnahme in der Türkei wurde das Ausreiseverbot gegen die deutsche Übersetzerin nun aufgehoben, doch ihr Ehemann muss in der Türkei bleiben. Tolu steht nun vor der Wahl, ihren dreijährigen Sohn in ihre Heimatstadt Ulm zurückzubringen und vom Vater zu trennen – oder doch in der Türkei zu bleiben.
Mit der Aufhebung des Ausreiseverbots, die wenige Tage nach einem Telefonat von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ und Bundeskanzlerin Angela Merkel bekannt wurde, will die türkische Regierung ein versöhnliches Signal an Europa senden, um angesichts des Streits mit den USA und wachsender Wirtschaftsprobleme die Beziehungen zu Deutschland und Europa zu verbessern. Kritiker warnen jedoch davor, Freilassungen mit politischen Zugeständnissen an Ankara zu belohnen.
Tolu war im April 2017 zusammen mit ihrem Mann, Suat C¸orlu, und mehreren anderen Beschuldigten wegen angeblicher Unterstützung von Linksextremisten festgenommen worden. Sie saß mehrere Monate in Haft, in der sie zunächst ihren Sohn, Serkan, bei sich hatte, und wurde im Dezember unter Auflagen auf freiem Fuß gesetzt. Istanbul durfte sie jedoch nicht verlassen. Bei einem Verhandlungstermin vor vier Monaten bestätigte das Gericht die Ausreisesperre – nun wurde diese überraschend aufgehoben. Der Prozess gegen die Eheleute und andere Beschuldigte soll weitergehen. Nach Angaben ihres deutschen Unterstützerkreises wird Tolu am Sonntag in Deutschland erwartet.
Getrennte Eltern
Vor allem für ihren Sohn dürfte die Haftzeit traumatisch gewesen sein. Eine Zeit lang lebte er bei seiner Mutter in einer Gemeinschaftszelle im Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy, dann übernahmen Verwandte vorübergehend seine Pflege, bis im Herbst sein Vater aus der Haft entlassen wurde. Als einige Wochen später auch Mesale¸ Tolu freikam, war die Familie erstmals seit einem dreiviertel Jahr wieder vereint. Die Aufhebung der Ausreisesperre stellt die Familie jedoch vor neue Herausforderungen, denn Tolus Mann muss am 16. Oktober erneut vor Gericht erscheinen. Tolu hat in Ulm einen Kindergartenplatz für ihren Sohn reserviert: Er solle unbedingt eine Ausbildung in Deutschland erhalten, sagte sie immer wieder.
Während Mesale¸ Tolu in Ulm erwartet wird, wird der Prozess gegen sie weiterlaufen. Sollte Tolu in Abwesenheit zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt werden, könnte sie nicht mehr wieder zurück in die Türkei und zu ihrem Ehemann; das Kind wäre dann auch vom Vater getrennt. Bleibt sie dagegen in der Türkei, riskiert sie, bei einer Verurteilung wieder hinter Gitter zu kommen; das Kind würde dann die Mutter verlieren. Wie sie sich entscheiden wird, ist offen. Tolu war am Montag nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.
Entschiedener Europa-Kurs gefordert
Unklar ist auch, ob das Telefonat zwischen Erdogan˘ und Merkel zu der Entscheidung zugunsten der Ulmerin beigetragen hat. Im Februar hat die Türkei den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel nach einem Treffen Merkels mit dem damaligen Premier, Binali Yıldırım, freigelassen. Vorige Woche wurden auch zwei griechische Soldaten sowie Taner Yıldız, der Ehrenvorsitzende von Amnesty International Türkei, freigelassen. Erdogan˘ reist Ende September zu einem Staatsbesuch nach Berlin.
Der türkische Oppositionspolitiker Sezgin Tanrıkulu rief Ankara zu einer Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaat auf. Nur mit einem entschiedenen Europa-Kurs sei die Wirtschaft des Landes zu retten, sagte Tanrıkulu der „Presse“. Bei ihrer Reaktion auf die Avancen aus Ankara müssten die Europäer vorsichtig sein, meint der türkische Politologe Cengiz Aktar.
Die Freilassungen dürften nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass die Türkei mit der Festnahme von Ausländern eine „Schurkenstaatdiplomatie“betrieben habe, so der Professor an der Universität Athen. Nach den Freilassungen könne „schon morgen wieder das Gegenteil geschehen“, sagte er mit Blick auf mögliche neue Festnahmen.
Die Gesten der türkischen Regierung seien Signale der Verzweiflung inmitten einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise und keine Zeichen demokratischer Reformen durch die Führung in Ankara, betonte Aktar: „Sie hat keine andere Trumpfkarten mehr.“
Nach den Freilassungen kann schon morgen wieder das Gegenteil geschehen. Politologe Cengiz Aktar