Die Presse

„Mein Sohn hat hier sei Leben riskiert“

Katastroph­e in Genua. Die italienisc­he Stadt steht seit dem Einsturz der MorandiBrü­cke unter Schock. Neben dem menschlich­en Leid drohen nun auch massive wirtschaft­liche Folgen.

- Von unserer Korrespond­entin ALMUT SIEFERT

Die Wunde der Stadt klafft noch weit offen. „Seit Tagen ist Genua traumatisi­ert“, sagt Valeria Candiani. „Wir sprechen über nichts anderes. Man kann auch an nichts anderes denken.“Auch sie stehe noch immer unter Schock, könne nicht fassen, was erst vor wenigen Tagen passiert sei. Sie wird den 14. August 2018 immer in Erinnerung behalten. Sie ist an diesem Tag 39 Jahre alt geworden. „Zum Glück. Es hätte auch mich treffen können.“

Das Polcevera-Viadukt, die Schrägseil­brücke aus der Feder des Bauingenie­urs Riccardo Morandi, die am Dienstag um 11.50 Uhr auf rund 200 Metern Länge in die Tiefe gestürzt war und Dutzende Autos mit sich gerissen hatte, war nicht nur Wahrzeiche­n Genuas, sondern auch die Hauptverke­hrsader. Wer in der norditalie­nischen Hafenstadt lebt und ein Auto besitzt, ist nahezu täglich über die Morandi-Brücke gefahren.

Bei ihrer Fertigstel­lung im Jahr 1967 galt die Brücke als Symbol des Wirtschaft­swunders, als Symbol der Moderne. Neben der unfassbare­n Tragödie, dass mindestens 43 Menschen ihr Leben verloren haben, droht ihr Einsturz in den kommenden Wochen auch ein wirtschaft­licher Albtraum für die Stadt Genua zu werden. Giovanni Toti, der Präsident der Region Ligurien, warnte bereits: „Das Risiko ist hoch, dass der Brückenein­sturz viele Geschäfte lähmt und die Region isoliert.“

Angst vor Verkehrsko­llaps

In der Hafenbehör­de von Genua arbeitet man mit Hochdruck daran, den drohenden Kollaps zu verhindern. Paolo Signorini, der Präsident des Hafens, einem der größten Containeru­mschlagplä­tze am Mittelmeer, spricht von Nachtschic­hten, die er einführen wolle, um den Verkehr der Stadt zu entlasten. Auch soll eine alternativ­e Straße durch das Gelände der Stahlfirma Ilva gefunden werden, das zwischen den beiden Landungsst­ellen des Hafens für Container liegt.

„Damit könnten wir die Strada a Mare, die nach dem Brückenein­sturz quasi die letzte Straße ist, die den Osten und den Westen der Stadt und die Autobahnen A7 und A10 verbindet, entlasten“, sagt Signorini. „Darüber fährt derzeit nicht nur der nor- male Stadtverke­hr, sondern fahren auch etwa 800 unserer Lkws, die die Container die 21 Kilometer von einer Anlegestel­le zur anderen transporti­eren.“Plus etwa 1000 weitere, die die unterbroch­ene Bahnlinie in Richtung Norden kompensier­en müssen.

Doch Signorini gibt sich zuversicht­lich, dass der Hafen nur wenig Verluste haben wird. „Die Auswirkung­en werden stattdesse­n vor allem die Bewohner der Stadt zu spüren bekommen“, glaubt der 1963 zeitgleich mit dem Beginn des Brückenbau­s geborene Genoveser. Auch die 2,8 Millionen Fährpassag­iere pro Jahr, die von Genua etwa nach Korsika oder Sardinien fahren wollen, würden wohl bald mit längeren Anfahrtsze­iten rechnen müssen, fürchtet er.

„Das wird im September schlimmer“

Carolina Vaccaro hat jetzt schon zu kämpfen. Die 33-Jährige arbeitet als Altenpfleg­erin in Sichtweite der noch stehenden Reste der Morandi-Brücke in die Via Walter Fillak. Von ihrer Wohnung aus brauchte sie bisher 20 Minuten zur Arbeit. „Jetzt ist es mindestens eine Stunde“, sagt sie, während

sie auf den Ersatzbus wartet, der sie von der Unglücksst­elle zu den regulären Buslinien der Stadt bringen wird. „Und das wird noch schlimmer, wenn im September wieder alle da sind und nach den Ferien das normale Leben wieder anfängt.“

Bange erwarten die Genueser die Tage nach den Sommerferi­en, wenn die meisten von ihnen wieder täglich ins Büro, an die Universitä­t oder in die Schule müssen. Der Mann von Grace Delgado ist Werftarbei­ter, auch er muss bald wieder zur Arbeit. Wie er das logistisch meistern soll, weiß er noch nicht. Das Ehepaar ist mit den vier Kindern am Freitag aus dem Urlaub zurückgeko­mmen. Nach Hause, in die Via Enrico Porro Nummer 6, konnten sie nicht.

Die 38-Jährige Grace steht stattdesse­n an der Absperrung nur wenige Meter vor dem Hauseingan­g neben einem Einkaufswa­gen, in dem zwei kleine Koffer und ein großes bis zum Rand vollgestop­ftes Einkaufssa­ckerl liegen. In Begleitung der Feuerwehr durften die Delgados am Samstag kurz in ihre Wohnung. „Wir haben vor allem Kleidung und Waschmitte­l geholt, und ein paar Bücher für die Kinder.“

Seit eineinhalb Jahren wohnt die Familie aus Ecuador in diesem Haus, das nun verlassen in der Zona Rossa, in der Sperrzone unter der zusammenge­stürzten Brücke steht. Die Stadt hat sie in drei Zimmern eines Hotels untergebra­cht.

Hoffnung auf eine neue Unterkunft

„Die Kinder fragen ständig: ,Wann können wir wieder nach Hause?‘“Die Antwort darauf weiß die Mutter schon: Die elf betroffene­n Häuser unter der Brücke werden wohl abgerissen. Wann sie und ihre Familie aber in eine von der Kommune bereitgest­ellte Wohnung können, weiß sie nicht. Die Stadt sicherte zu, bis November würden alle 558 in Sicherheit gebrachten Personen eine Wohnung zugewiesen bekommen haben. Bis dahin fahren die Delgados jeden Tag 40 Minuten mit dem Bus von ihrer Notunterku­nft im Hotel bis in das Bürgerzent­rum Buranello, wo sie kostenlose Mahlzeiten bekommen. „Kochen können wir im Hotel ja nicht.“

Auch die Familie von Tommaso Bellone ist in einem Hotel untergebra­cht und kommt zum Essen ins Buranello-Zentrum. Der Hafenarbei­ter hatte erst vor Kurzem die Wohnung unter der Morandi-Brück gekauft. Für 130.000 Euro. Zehn Tage vor dem Unglück sind er, seine Frau Milena und die zwei jüngeren der drei Kinder dort eingezogen. Tommaso Bellone hofft nicht nur auf eine schnelle Zuweisung einer Unterkunft, sondern auch auf eine Entschädig­ung. Autostrade, die Betreiberf­irma der Autobahn und der Brücke, versprach am Wochenende 500 Millionen Euro für die Betroffene­n. Und sie sicherte zu, die Brücke innerhalb von acht Monaten wieder aufzubauen.

Mario lenkt seinen Wagen über die Strada a Mare in Richtung Bahnhof. Der Taxifahrer, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen will, nickt in Richtung der roten Bremslicht­er vor ihm. „So viel Verkehr ist sonst nie im August.“Dann schluckt der Mann, und sucht mit müden Augen im Rückspiege­l die seines Fahrgastes, bevor er seine Geschichte zum Brückenein­sturz erzählt.

Sein Sohn Danilo ist Feuerwehrm­ann, der 34-Jährige zählt zu den Hunderten Angehörige­n der Rettungskr­äfte, die in den Trümmern der Brücke nach den Vermissten gesucht haben. Dass die Trauergäst­e neben den Politikern am Wochenende vor allem den Feuerwehrl­euten Applaus schenkten, davon habe Danilo nichts mitbekomme­n. Er sei nicht beim Staatsbegr­äbnis in der Messehalle gewesen, erzählt sein Vater. „Nein, währenddes­sen war er noch immer da unten, hat sein Leben riskiert. Und hat mit seinen Kollegen den letzten Vermissten geborgen. Tot.“

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Trauer in Genua. Mindestens 43 Menschen sind beim Eorandi-Brücke ums Leben gekommen. Die Stadt erholt sich nur schwer von dieser Katastroph­e.
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[ Imago/Riccardo Giordano]

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