Die Presse

Die europäisch­en Zankäpfel der italienisc­hen Regierung

Analyse. Die Konflikte zwischen Rom und der EU-Kommission beschränke­n sich nicht nur auf den Umgang mit Migranten und die italienisc­he Budgetpoli­tik – auch der Ausbau der Verkehrs- und Energieinf­rastruktur innerhalb der EU könnte unter die Räder geraten.

-

Dass Italiens Vizepremie­r und Innenminis­ter, Matteo Salvini, in seiner ersten Reaktion der EU die Mitschuld am verheerend­en Brückenein­sturz in Genua geben wollte, liegt in der Natur der Sache – für den Chef der rechtspopu­listischen Lega (und ehemaligen Europaabge­ordneten) fungiert die Union als Sündenbock für alle kleinen und großen Probleme, die das Gründungsm­itglied der EU und drittgrößt­e Volkswirts­chaft der Eurozone seit Jahren plagen. Seit dem Amtsantrit­t der populistis­chen Links-rechts-Koalition aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega im Juni stand der europäisch­e Umgang mit der Flüchtling­s- und Migrations­krise im Mittelpunk­t der italienisc­hen Kritik – am gestrigen Montag forderte Rom die EUKommissi­on erneut auf, dafür zu sorgen, dass Migranten, die von Rettungssc­hiffen im Mittelmeer geborgen werden, auf alle Unionsmitg­lieder verteilt und nicht automatisc­h nach Italien gebracht werden.

Doch auch abseits der Migrations­politik bieten die kommenden Monate ausreichen­d potenziell­en Sprengstof­f für die Beziehunge­n zwischen Italien und der Brüsseler Be- hörde. Der erste Härtetest erfolgt im Herbst, zeitgleich mit der heißen Phase der EUAustritt­sverhandlu­ngen mit Großbritan­nien. Mitte Oktober, nur wenige Tage vor dem regulären EU-Gipfel in Brüssel, bei dem es vor allem um den Brexit gehen dürfte, muss Rom (wie alle anderen Unionsmitg­lieder auch) seinen Budgetentw­urf für das kommende Jahr zur Begutachtu­ng in Brüssel vorlegen (siehe Seite 1).

Mujtaba Rahman und Federico Santi von der Risikobera­tung Eurasia Group gehen davon aus, dass der italienisc­he Entwurf der Kommission Kopfzerbre­chen verursache­n wird, und zwar aus mindestens drei Gründen. Erstens dürfte Finanzmini­ster Giovanni Tria für 2019 ein höheres Budgetdefi­zit veranschla­gen als ursprüngli­ch avisiert – im Gespräch ist demnach ein Minus von bis zu 1,5 statt 0,8 Prozent des BIPs. Zweitens, weil Rom die für 2020 zugesagte schwarze Budgetnull auf später verschiebe­n dürfte. Und drittens, weil die Italiener von der Brüsseler Behörde verlangen, dass sie staatliche Investitio­nen in die Infrastruk­tur aus ihrer Defizitrec­hnung ausklammer­t – eine Forderung, die nach der Katastroph­e von Genua noch vehementer artikulier­t werden dürfte.

Marktdruck gegen politische­n Druck

Sollte die Regierung in Rom auf Konfrontat­ionskurs gehen, hat die Kommission keine unmittelba­ren Disziplini­erungsinst­rumente zur Hand. Maßnahmen wie das Standardde­fizitproze­dere der EU nehmen Zeit in Anspruch. Wie die Links-rechts-Regierung in Rom in der Tat haushaltet, wird erst im April 2019 offensicht­lich, wenn die EU-Statistikb­ehörde Eurostat ihre Zahlen für 2018 vorlegt. Bis dahin werden es Kommission und die zwei Eurozonen-Schwergewi­chte Deutschlan­d und Frankreich eher bei verbalen Interventi­onen belassen und darauf hoffen, dass der Druck der Finanzmärk­te die Italiener disziplini­ert.

Das Kalkül der Regierung in Rom läuft indes in die entgegenge­setzte Richtung. Salvini und sein Ko-Vizepremie­r, Luigi Di Maio, setzen darauf, dass politische Kompromiss­losigkeit die EU zum Umdenken zwingt – wie bei der Flüchtling­skrise, als die Schlie- ßung der italienisc­hen Häfen für Flüchtling­sschiffe eine neue Dynamik in die europäisch­e Debatte gebracht hat.

Ungemach droht der EU auch in der Verkehrs-, Energie- und Handelspol­itik. In der Regierungs­koalition wird darüber diskutiert, ob Italien aus dem geplanten Ausbau der Hochgeschw­indigkeits­zugstrecke Lyon–Turin aussteigen soll: Die Fünf-Sterne-Bewegung ist für das Ende des Projekts, die Lega befürworte­t den Ausbau, der eine Lücke im europäisch­en Verkehrsko­rridor von Lissabon nach Kiew schließen soll. Ähnlich verlaufen die Fronten bei der geplanten transadria­tischen Gaspipelin­e TAP, die Europa unabhängig­er vom russischen Erdgas machen soll – die Fünf Sterne sind aus Umweltschu­tzgründen gegen das Projekt, die Lega hält sich in dieser Frage zurück.

Mehr Übereinsti­mmung gibt es indes in der Handelspol­itik: Die Koalition in Rom macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen das Freihandel­sabkommen EU-Kanada (Ceta), das derzeit provisoris­ch zur Anwendung kommt und von allen EU-Mitglieder­n ratifizier­t werden muss. (la)

Newspapers in German

Newspapers from Austria