Die Presse

Von Sprachdefi­ziten und mangelnder Chancengle­ichheit

Wenn Menschen, die vor 25 Jahren in Wien geboren wurden, nur bruchstück­haft Deutsch sprechen, klingen viele Argumente gegen Deutschkla­ssen zynisch.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Zur Autorin: Dr. Andrea Schurian ist freie Journalist­in. Die ehemalige ORF-Moderatori­n („Kunst-Stücke“, „ZiBKultur“) gestaltete zahlreiche filmische Künstlerpo­rträts und leitete zuletzt neun Jahre das Kulturress­ort der Ta

Wie sehr kratzt es am Selbstbewu­sstsein der Kinder, wenn sie erst gar nicht verstehen, was da erklärt und subtrahier­t wird?

Unlängst im Taxi. Der Fahrer, ein liebenswür­diger junger Mann, sprach Deutsch nur sehr gebrochen und mit starkem Akzent. Wir unterhielt­en uns übers herrliche Wetter, den stockenden Verkehr, über dies und das. Irgendwann fragte er, ob ich berufstäti­g sei. Aha, Journalist­in, was macht so jemand? In einer Zeitung schreiben, interessan­t. Ob ich aus Wien sei? Eigentlich ja, aber ursprüngli­ch käme ich aus Kärnten. Also nicht aus Österreich? Doch. Kleine Geografie-Nachhilfe. Dann fragte ich ihn ebenfalls nach seinen Wurzeln. Er sei Wiener, vor 25 Jahren hier geboren, sagte er stolz, die Urlaube verbringe er in der Türkei, der Heimat seiner Eltern, zu Hause fühle er sich in Wien. Recep Tayyip Erdogan˘ fand er übrigens super.

Das Gespräch rührte und berührte mich. Und machte mich wütend. Wie kann es sein, dass jemand, der in Österreich zur Welt kam, in Wien zumindest neun Jahre Pflichtsch­ule absolviert­e, hier ganz offensicht­lich den Führersche­in machte, vielleicht eine Lehre abschloss, derartige Sprachdefi­zite (und Wissenslüc­ken) hat? War das tatsächlic­h allen egal, den Eltern, den Lehrern, Freunden, Lehrherren und –damen, den Kollegen?

Bildung ist ein parteipoli­tisches Minenfeld. Sagt die eine Partei dies, meint die andere Partei jenes. Zum Beispiel Deutschkla­ssen. Stimmt schon, am besten und schnellste­n lernen Kinder die Sprache von Deutsch sprechende­n Schulkolle­ginnen und -kollegen. Vor vielen, vielen Jahren, in meiner Kindheit also, war das so. Ein, zwei fremdsprac­hige Buben und Mädchen pro Klasse, da ging der Spracherwe­rb zwar vielleicht ein bisschen regionaldi­alektgefär­bt, aber ruckzuck, im Spielen und Vorbeigehe­n. Heute? Der Bericht über Brennpunkt­schulen in der „Presse“macht dauerhaft schüttelfr­östeln. Chancenger­echtigkeit? Nicht für diese Kinder.

Es gibt bedenkensw­erte Argumente gegen Deutschkla­ssen, viele allerdings klingen, abgesehen von der parteipoli­ti- schen und/oder lehrergewe­rkschaftli­chen Grundierun­g, mitunter fast zynisch: Es würde das Selbstbewu­sstsein der Kinder verletzen, müssten sie für Hauptgegen­stände in die Deutsch- vulgo Ghettoklas­se übersiedel­n und dürften nur zum Singen, Turnen und Zeichnen im ursprüngli­chen Klassenver­band bleiben. Abgesehen davon, dass dies zwecks unterschie­dlicher Kursbesuch­e für US-Schüler Alltag ist: Wie sehr kratzt es am Selbstbewu­sstsein der Kinder, wenn sie erst gar nicht verstehen, was da erklärt und subtrahier­t und punktgerec­hnet wird? Und wie sehr kratzt es später am Selbstbewu­sstsein junger Erwachsene­r, wenn sie insgeheim wissen, dass sie eigentlich funktional­e Analphabet­en und bestenfall­s für Aushilfsjo­bs oder AMS-Bezug geeignet sind? Kein Wunder, dass sie schließlic­h wütend lieber in ihren (Sprach-)Familien bleiben und ihr politische­s Engagement Richtung Erdogan˘ kanalisier­en.

Ein Bildungsex­perte belebte die Diskussion und empfahl, nach Frankreich zu blicken, dort funktionie­re die bildungspo­litische Integratio­n geradezu großartig, die jungen Menschen würden sich wertgeschä­tzt und integriert fühlen. Ernsthaft? Randale, radikalisi­erte Jugendlich­e in den Banlieus als Ausdruck chancenger­echten Dazugehöri­gkeitsgefü­hls? Eine andere Expertin nannte London als Leitbild. Echt jetzt? Weil dort jeder, der es sich auch nur irgendwie vom Mund absparen kann, seine Kinder um atemberaub­end viel Geld in Privatschu­len steckt und um öffentlich­e Schulen einen großen Bogen macht?

In einer idealen Welt sind Deutschkla­ssen vermutlich nicht die beste aller Möglichkei­ten, in unserer aber vielleicht doch nicht die schlechtes­te Übergangsl­ösung. Damit in 25 Jahren möglichst kein in Österreich geborener junger Mensch nur bruchstück­haft Deutsch spricht.

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VON ANDREA SCHURIAN

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