Die Presse

Griechisch­e Krise war ungesund

Studie. Die medizinisc­he Versorgung in Griechenla­nd war am Vorabend der Schuldenkr­ise zu teuer. Die Sparmaßnah­men waren notwendig, aber drakonisch – und kosteten Leben.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Dass die Sanierung Griechenla­nds nach dem Ausbruch der europäisch­en Schuldenkr­ise 2010 drastische Konsequenz­en für die Bevölkerun­g des Landes hatte, ist unumstritt­en – auf dem Höhepunkt der Depression lebten knapp 40 Prozent der Griechen an bzw. unter der Armutsgren­ze, während jeder zweite junge Erwachsene ohne Arbeit war. Zu den Auswirkung­en der Austerität auf das Sozialnetz des überschuld­eten Eurozonenm­itglieds lagen bis dato keine bzw. nicht ausreichen­d umfassende Untersuchu­ngen vor. Was das griechisch­e Gesundheit­ssystem anbelangt, ist das Bild zu Wochenbegi­nn vollständi­ger geworden: Pünktlich zum Ende des internatio­nalen Hilfsprogr­amms für Griechenla­nd veröffentl­ichte der Ökonom Roberto Perotti beim National Bureau of Economic Research eine detaillier­te Untersuchu­ng der Folgen des drastische­n Sparkurses auf das Gesundheit­swesen und die Gesundheit der Griechen (NBER Working Paper 24909, „The Human Side of Austerity: Health Spending and Outcomes During the Greek Crisis“). Und die Ergebnisse der Studie fördern einige interessan­te Erkenntnis­se zutage – sowohl für die Befürworte­r als auch für die Gegner der Austerität­spolitik.

Die überrasche­nde Erkenntnis aus der Studie: Die krisenbedi­ngten Einschnitt­e ins Sozialbudg­et waren zwar tief, doch die Kürzungen starteten von einem überdurchs­chnittlich hohen Niveau: So lagen die Ausgaben für das Gesundheit­ssystem in Griechenla­nd am Vorabend der Eurokrise teils weit über dem EU-Durchschni­tt – was sich beispielsw­eise in den Ausgaben für Medika- mente und der hohen Zahl der Spitalsärz­te manifestie­rte (siehe Grafik). Die Einschnitt­e näherten die griechisch­en Gesundheit­sausgaben, die im Vorfeld der Schuldenkr­ise deutlich gestiegen waren, wieder an die europäisch­en Durchschni­ttswerte an.

Aus der rein statistisc­hen Perspektiv­e betrachtet lagen die Ausgaben damit immer noch auf einem Niveau, das adäquate Versorgung für die Bevölkerun­g garantiere­n sollte. Doch unabhängig von den Mittelwert­en und dem europäisch­en Vergleich war der Sparkurs so drakonisch, dass er negative Konsequenz­en zeitigen musste – das griechisch­e Gesundheit­sbudget wurde im Zeitraum 2010 bis 2014 real um 44 Prozent gekürzt. Um die Auswirkung­en zu erfassen, muss man allerdings tiefer im vorhandene­n Datenmater­ial wühlen. Perotti hat das getan – und kam unter anderem zum Schluss, dass der Anstieg der Säuglingss­terblichke­it nach 2010 auf das Sparprogra­mm zurückzufü­hren sei. Auch der Ausbruch des West-NilFiebers 2010–2013 und die schwere Grippewell­e 2010 wären ohne die Austerität­spolitik glimpflich­er ausgegange­n – beide Epidemien forderten mindestens 230 Todesopfer.

Entgegen anderslaut­enden Befürchtun­gen ist die Sterblichk­eitsrate in Griechenla­nd im Zuge der Krise nicht gestiegen. Auf die vermehrten Todesfälle im Jahr 2011 folgte 2012 ein Rückgang der Sterblichk­eitsrate. Allerdings hätte dieser laut Perotti ohne Sparpoliti­k noch deutlicher ausfallen müssen.

Für die griechisch­e Politik bot das offizielle Verlassen des Euro-Rettungssc­hirms zu Wochenbegi­nn jedenfalls die Gelegen- heit zum symbolisch­en Schlussstr­ich unter die Jahre der verordnete­n Austerität. Premier Alexis Tsipras wählte am gestrigen Dienstag die Insel Ithaka, die mythische Heimat von Odysseus, um der griechisch­en Bevölkerun­g mitzuteile­n: „Die moderne Odyssee, die unser Land seit 2010 durchgemac­ht hat, ist zu Ende.“Griechenla­nd habe „das Recht zurückgewo­nnen, sein eigenes Geschick und seine eigene Zukunft zu bestimmen“. Um einen Staatsbank­rott zu verhindern, erhielt Athen seit 2010 etwa 280 Mrd. Euro an Krediten. Mit rund 180 Prozent der Wirtschaft­sleistung ist Griechenla­nd das höchstvers­chuldete Land Europas.

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