Nitsch: „Ich werde natürlich weiterleben“
80. Geburtstag. „Die Presse“traf Hermann Nitsch im Technischen Museum, wo vieles für ihn begann. Über die Erinnerung, verspottet zu werden. Die Erfahrung, Caesar zu sein. Und den Tod, an den zu denken eines Philosophen unwürdig sei.
Was habt’s ihr mit dem Museum gemacht?“Die Enttäuschung ist dann doch da, als wir nicht finden, was wir suchen. Das erste, angeblich noch farbbespritzte Atelier Hermann Nitschs, in einer Kammer unter dem Dach des Wiener Technischen Museums. Dort ist er mit 20 Jahren, nach Abschluss der Grafischen, „eine Art Grillparzer-Job“(Nitsch) als Gebrauchsgrafiker angetreten. Dort fanden ab 1960 seine ersten Malaktionen statt, dort feilte er am Orgien-Mysterien-Theater. Anlässlich seines 80. Geburtstags am 29. August bat „Die Presse“den Aktionisten zu dieser (erfolglosen) Spurensuche. Das Kammerl musste wohl dem letzten Umbau weichen. Dafür bekam Nitsch Einblick in seinen alten Personalakt, in dem die Sorge formuliert ist, dass die „neue Kunstrichtung, die er in seiner Freizeit propagiere“, den Ruf des Museums schädigen könnte.
Die Presse: Gekündigt haben aber Sie. Hermann Nitsch: Ich habe 1963 mit dem Otto Muehl das „Fest des psycho-physischen Naturalismus“veranstaltet – da wusste ich, das geht nicht gut aus, wenn ich bleibe. Ich habe dann versucht, Geld mit Kinoaufsicht und Kinderporträts zu verdienen. Richtig leben von meiner Kunst konnte ich erst nach der Documenta-Beteiligung 1972.
Erinnern Sie sich gern an die Zeit hier? Nein. Ich war bis 1963 hier, also fünf Jahre, und habe sehr gelitten, weil ich sehr einsam war, mich niemand verstanden hat. Es träumt mir noch heute, dass ich wieder ins Museum gehen muss. Ich habe ja damals schon viel über meine Philosophie und meine Kunst geredet, aber die Kollegen haben mich verspottet, meine Malerei nachgeäfft, ich war der Hans Wurst. Dafür hat mich die damalige Kunstszene, der Arnulf Rainer, der Peter Kubelka, hier besucht.
Was mussten Sie eigentlich tun? Jede Woche ein Plakat machen, Ausstellungen entwerfen, an die Wand malen. Aber eigentlich konnte ich tun, was ich wollte. Der Direktor (Josef Nagler, Anm.) war ein abgehobener Mensch, eine lustige Erscheinung eigentlich, dem war das wurscht. Vor allem aber habe ich mich in diesen fünf Jahren einem Universitätsstudium unterworfen, unheimlich viel gelesen. Ich habe mir sogar eine Konstruktion gebaut – wenn die Tür aufgegangen ist, verschwand das Buch in der Schreibtischlade.
Was mich immer an Ihrem Werk beeindruckt, ist, dass Sie mit 20 schon alles fertig hatten, das ganze OM-Theater, die ganze Theorie, die ganze Philosophie dahinter. Ja, ich arbeite immer noch an meinem Jugendwerk. Da gibt es Vergleichbares, den Schopenhauer etwa oder den Goethe mit seinem „Faust“. Ich habe keine Kehrtwendung in meiner Arbeit, vergleichbar mit einem Baum, erst ist es ein Pflanzerl, dann kommen die Äste, dann das Laub.
Die Wurzeln reichen ins Wien um 1900, zu Schiele, Klimt und Gerstl. Dort sind große Vorbilder und Anregungsfaktoren für mich zu finden. Wir Aktionisten haben uns immer wieder darauf bezogen. Auch auf Schönberg, Wittgenstein, Trakl.
Fehlt nur noch endlich die große Ausstellung dazu, die diesen Bogen spannt. Heuer wird auch 50 Jahre 1968 begangen. Wo waren Sie eigentlich bei der skandalisierten Uni-Aktion Ihrer Aktionistenkollegen? In Amerika, wo ich damals meine ersten Erfolge gefeiert habe. Erst zurück in München habe ich erfahren, was passiert ist. Und heute noch bin ich froh darüber, dass ich nicht dabei war. Ich hätte keinen politischen Beitrag liefern können. Ich war nie ein Patriot. Ich war, das klingt pathetisch, immer auf den Kosmos orientiert. Politik hat mich nie interessiert. Ich bin ein großer Gegner der Politik, wie sie in unserer Zeit praktiziert wird. Diese Erkenntnis habe ich im Alter von sechs gewonnen. In der Volksschule musste ich noch mit dem Nazi-Gruß grüßen. Dann sind die Alliierten gekommen, die alle Presseorgane besetzt haben. Dort schimpften dann die Amerikaner über die Kommunisten und die Kommunisten über den Kapitalismus. Ich habe gesehen, wie drei politische Fronten sich bekämpfen. Es war verlogen, aggressiv und karrierebedingt. So ist es geblieben. Meine Arbeit ist Wahrheitssuche und Psychohygiene. Es wäre viel besser, meine Aktionen zu realisieren, statt Kriege zu führen. Da würden nicht mehr so viele Neurotiker herumlaufen.
Sie beziehen sich stark auf Sigmund Freud, vor allem aber auf C. G. Jung. Ich habe von beiden Meistern viel gelernt, aber von Jung am meisten. Sein Gesamtwerk habe ich auch hier im Museum gelesen.
Als Therapie wollen Sie Ihre Aktionen trotzdem nicht verstanden wissen. Ich sage nicht, dass sie als Therapie nicht funktionieren. Aber mein Hauptaugenmerk liegt auf der Form. Meine Kunst, in der es um sinnliches Ausagieren geht, hat sehr viel mit Psychoanalyse zu tun. Sie wird aber nicht verbal vollzogen, sondern in direkter Auseinandersetzung mit der sinnlichen Substanz: Schleim, Blut, Eidotter, Früchte. Meine Therapie besteht in der Aufforderung, sinnlich intensiv zu erleben und dadurch Verdrängtes nach außen zu reißen, in Leben und Kunst zu verwandeln.
Aber die Akteure sollen Ihre Partitur mit ihren nicht immer berechenbaren Entäu- ßerungen nicht allzu sehr stören. „Orgie auf Pfiff“hieß ein „Presse“-Titel. Ich fühle mich schon dafür verantwortlich, dass die Leute in meinem Theater nicht durchdrehen. Es ist eine Abreaktion, die ich verantworten und kontrollieren kann, vor allem durch die Form.
Ist das Durchleben des sadomasochistischen Urexzesses die Lösung für alle? Ich glaube, der Grundexzess, der in meinem Theater immer zitiert und als Endpunkt der Abreaktion angestrebt wird, liegt in uns allen. Es gibt auch im Kosmos immer wieder Aufbau und Zerstörung. Das Dionysische ist gleichzeitig Aufbau und Zerstörung. Die Schöpfung ist alles: Ausklingen, Wachsen, Auflösung, Auferstehung.
Wie ein Auferstehungsbild wirkt auch das neue, reinweiße Schüttbild, das wie ein letzter Akkord die Bilderwand Ihrer aktuellen Retrospektive in Mistelbach krönt. Ich liebe ja den Isenheimer Altar von Grünewald über alles. Dort sind zwei Extreme dargestellt: der Tod und die Auferstehung. Ein lachender Christus! Das hat mich immer in den Religionen gestört, dass nie jemand lacht. Das weiße Bild ist dieser positive Schluss meines ganzen Theaterunternehmens. Der Sonnenaufgang.
Oder das Nichts. Meine Güte, das Nichts muss für so viele Sachen herhalten. Das Nichts würde ich eher als die Leere bezeichnen, wie die Asiaten.
In der „Süddeutschen Zeitung“sagten Sie, Sie hätten Angst vor dem Tod wie ein Kind Angst vor dem Einschlafen hat. Das klingt nicht nach dem von Ihnen so gern beschworenen allumfassenden „Sein“. Ich werde das nicht mehr sagen, die Leute missverstehen das. Mein ganzer Glauben an das Sein fängt ja jetzt nicht zum Wackeln an. Das Sein ist schließlich sein eigenes Jenseits. Wir haben gelernt, zwischen Irdischem und Jenseits, Erde und Himmel zu unterscheiden. Das lehne ich vollkommen ab. Für mich transzendiert jeder Augenblick. Ich würde so weit gehen, dass man in großen Momenten der Identifizierung mit dem Sein selbst der Mittelpunkt des Seins ist.
Das müssen Sie mir erklären. Man kann das verbal nicht beschreiben, aber: Im Sinne dessen, dass ich das Sein bin, war ich alles und werde ich alles sein. Also ich war Caesar, ich war meine Mutter, oder ich war vielleicht sogar Sie. Es ist alles eins. Der Gedanke von der Gegenwart von Tod ist eines Philosophen vielleicht überhaupt unwürdig. Ich habe in das Sein und die Schöpfung jedenfalls so viel Vertrauen, dass ich darin geborgen bin. Und natürlich weiterlebe.
Das heißt: Ein nächstes Sechs-Tages-Spiel kommt bestimmt. Geplant ist 2020. Nächstes Jahr kommt eine große Ausstellung in der Albertina.
Nur Ihr Malkammerl scheint endgültig transzendiert. Ja, leider hat sich die Realität vor uns zurückgezogen.
Gehen wir sie doch noch einmal suchen.
Ich arbeite immer noch an meinem Jugendwerk, vergleichbar mit Schopenhauer oder Goethe. Ich bin ein Gegner der Politik, wie sie heute praktiziert wird. Sie ist verlogen, aggressiv, karrierebedingt.