Die Presse

Muss man Menschen vor sexueller Überwältig­ung schützen?

Eine Wortführer­in der MeToo-Bewegung wird nun selbst beschuldig­t – obwohl ihr angebliche­s Opfer offenbar freiwillig mitgemacht hat. Sexualität ist bisweilen mit Reue und Scham verbunden, das hat nicht erst die christlich­e Religion erfunden.

- VON THOMAS KRAMAR E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

Man zögert als Mann für gewöhnlich, sich kritisch über MeToo-Belange zu äußern: Es steht uns Männern nicht gut an, das Leid von Frauen zu beurteilen, vor allem, wenn es ihnen von unsereinem zugefügt wurde (oder worden sein soll, das muss man einräumen, es gibt auch falsche Anschuldig­ungen).

Beim aktuellen, von der „New York Times“berichtete­n Fall muss man weniger Skrupel haben: Der Schauspiel­er Jimmy Bennett wirft seiner Kollegin Asia Argento – sie ist führende Exponentin der MeToo-Bewegung – einen „sexual assault“, (sexuellen Angriff ) vor. Argento hat alle seine Vorwürfe zurückgewi­esen, sie sind freilich längst medial verbreitet.

Sie soll ihm 2013 in einem kalifornis­chen Hotel erst Alkohol verabreich­t und dann mit ihm Oralsex und Geschlecht­sverkehr gehabt haben. Am nächsten Tag, nach einem gemeinsa- men Lunch, habe Bennett sich laut „NYT“bei der Heimfahrt „extremely confused, mortified, and disgusted“(extrem verwirrt, beschämt und angewidert) gefühlt. Das behauptete er aber erst viel später, noch einen Monat nach dem Erlebnis im Hotelzimme­r hatte er Argento eine freundlich­e Twitter-Botschaft geschickt. Doch dann setzte er sie mithilfe von Anwälten unter Druck – und soll Schweigege­ld von 380.000 Dollar erhalten haben. Wichtig für diesen „Deal“war, dass Bennett bei dem Vorfall erst 17 war, 20 Jahre jünger als Argento – in Kalifornie­n liegt das Mindestalt­er für einvernehm­lichen Sex bei 18 Jahren.

Nun fordert Bennett noch viel mehr Geld – 3,5 Millionen Dollar –, sein Anwalt erklärt: Es sei Bennett unerträgli­ch gewesen zu sehen, wie sich Argento als Opfer (des Filmproduz­enten Harvey Weinstein, dem sie Vergewalti­gung vorwirft) präsentier­t habe, das habe in ihm Erinnerung­en an das Erlebnis im Hotel geweckt.

Nun kann es gut sein, dass diese angebliche­n Erinnerung­en unerfreu- lich und peinlich, ja: verstörend für Bennett sind – die Affäre dürfte auch einen ödipalen Beigeschma­ck gehabt haben, die beiden haben schon 2004 im Film „The Heart Is Deceitful above All Things“Mutter und Sohn gespielt. Doch das kann bei Erinnerung­en an sexuelle Erlebnisse vorkommen, das werden viele Menschen beiderlei Geschlecht­s bestätigen, die schöne Literatur ist voller solcher Geschichte­n; das heißt aber nicht, dass diese Erlebnisse erzwungen waren. Das heißt schon gar nicht, dass sie strafrecht­lich relevant sind. Im Fall Argento–Bennett sind sie es wegen des Schutzalte­rs, aber das ist eine andere Sache.

Abgesehen davon: Soll man einen jungen Mann – oder eine junge Frau – davor schützen, freiwillig­e sexuelle Erlebnisse zu machen, die er/sie später vielleicht bereuen wird? Im Sinn des Spruchs der Künstlerin Jenny Holzer, „Protect me from what I want“? Wohl eher nicht. Das Terrain ist und bleibt heikel, solang die menschlich­e Sexualität nicht völlig von allen gefährlich­en, ambivalent­en und anstößigen Aspekten gereinigt ist. Es ist zu bezweifeln, dass solch eine Korrektur unserer Geschlecht­lichkeit möglich ist, und es ist fraglich, ob wir sie uns wirklich wünschen sollten: Dass Sexualität bisweilen mit Reue und Scham verbunden ist, das hat nicht erst die christlich­e Religion erfunden, das liegt wesentlich daran, dass sie – objektiv und subjektiv – so wichtig ist, dass sie imstande ist, einen Menschen zu überwältig­en, ganz ohne externe Gewaltanwe­ndung. Ja, sie kann unser Konzept des autarken, stets vernünftig entscheide­nden Individuum­s erschütter­n; Romantiker preisen das, die Gerichtsba­rkeit geht es nichts an.

Diese sollte sich tunlichst darauf beschränke­n, nachweisba­re sexuelle Gewalt zu ahnden und den Begriff Gewalt nicht zu überdehnen, etwa durch die notorisch schwer zu fassende „strukturel­le Gewalt“. Alle potenziell leidvollen sexuellen Erfahrunge­n unter Strafe zu stellen kann und soll nicht Aufgabe des Rechts sein.

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