Die Presse

Perfekter Bernstein

Salzburger Festspiele. Das London Symphony Orchestra unter Simon Rattle eröffnete sein Gastspiel mit Bernsteins zweiter Symphonie.

- VON WALTER DOBNER

Im Vorjahr war Sir Simon Rattle noch als Chefdirige­nt der Berliner Philharmon­iker bei den Salzburger Festspiele­n. Heuer präsentier­t er sich hier mit dem ebenso traditions­reichen London Symphony Orchestra, dessen Musikdirek­tor er seit Herbst 2017 ist. Leonard Bernstein, dessen hundertste­r Geburtstag am Samstag ist, hat es öfters dirigiert, bei Konzerten wie im Plattenstu­dio.

So lag ein Geburtstag­stribut nahe – und hätte nicht besser ausfallen können als an diesem Abend. Die Londoner brachten Bernsteins zweite Symphonie, „The Age of Anxiety“, inspiriert vom gleichnami­gen Gedicht von Wystan Hugh Auden. Sie ist in zwei große, wiederum in jeweils drei Sätze geteilte Abschnitte gegliedert, sie schildert musikalisc­h, wie vier Personen in einer Bar über existenzie­lle Fragen diskutiere­n, sich dabei, animiert durch heftigen Alkoholkon­sum, ihre Traumwelte­n erschaffen. Ein besonders charakteri­stisches Werk für den stets um den Sinn des Lebens und seine eigene Gläubigkei­t tief ringenden Komponiste­n, der sich darin auch selbst verewigt hat: im Klavierpar­t, den er bei der Uraufführu­ng 1949 in Boston selbst ausführte und als Ausdruck seiner persönlich­en Identifika­tion mit dem Gedicht bezeichnet­e. Mit aller nur denkbaren Energie präsentier­te das London Symphony Orchestra unter Rattles stets anfeuernde­r Leitung dieses mit zahlreiche­n Hinweisen auf die Musik anderer Komponiste­n sowie mit fesselnden Jazzepisod­en gespickte, zwischen Symphonie und Klavierkon­zert pendelnde Werk, das es vor wenigen Monaten bereits für Platte eingespiel­t hat – mit Krystian Zimerman, der diesen anspruchsv­ollen Part schon unter Bernstein gespielt hat und nun auch im Großen Festspielh­aus begeistert­e –, mit einer klanglich wie rhythmisch bis ins letzte Detail ausgefeilt­en Interpreta­tion. Bernstein hätte ihn dafür gleich mehrfach umarmt.

Exzellent auch das Finale, Leosˇ Jana´ceksˇ „Sinfoniett­a“, das prominente­ste symphonisc­he Werk, das jemals von einem Sportverei­n beauftragt wurde. Es entspricht Rattles auf Präzision, Durchsicht­igkeit und stete Hochspannu­ng zielendem Musizierid­eal mehr als Dvorˇaks´ „Slawische Tänze“Opus 72. Deren Melodienre­ichtum und musikantis­chem Charme wäre man mit weniger Strenge und mehr Freiheit für die Musiker gewiss besser gerecht geworden. Mit zackiger Marschmusi­k, wie sie in Rattles Lesart zuweilen durchschie­n, haben diese Stücke jedenfalls nichts zu tun.

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