Die Presse

Wenn Heiraten zur Staatsaffä­re wird

China. Immer weniger junge Chinesen heiraten. Das besorgt nicht nur die Eltern, die versuchen ihre Kinder auf Heiratsmär­kten zu vermitteln. Auch Peking ist alarmiert: Die Hochzeitss­cheu wird zur demografis­chen Herausford­erung.

- VON MARLIES EDER

„Weiblich. Geboren 1986. 1,66 Meter groß. Universitä­tsabschlus­s. Einkommen: 4000.“Auch ein Foto ist zu sehen von einer Chinesin, deren Stirnfrans­en bis über die Augen reichen. Es ist eine von Tausenden Anzeigen, die jedes Wochenende den People’s Square im Herzen der chinesisch­en Metropole Shanghai zieren: auf Mauern, Schnüren, Bäumen, auf aufgespann­ten Schirmen oder eigens herangekar­rten Pinwänden.

Dazwischen Dutzende Heiratsver­mittler – und eine Schar meist schon pensionier­ter Chinesen. Sie bangen um die Zukunft ihrer Kinder. Wie auf einem Basar – teils ohne das Wissen des Nachwuchse­s – feilschen sie mit gleichgesi­nnten Eltern um Blind Dates. Einmal arrangiert, soll es sich im Idealfall um das künftige Schwiegerk­ind handeln – und recht bald das erste Enkelkind auf die Welt kommen.

Die Persönlich­keit zählt auf dem Shanghaier Heiratsmar­kt nur wenig, hat das Lokalblatt „The Paper“analysiert. Nur etwas mehr als ein Drittel von 874 durchforst­eten Annoncen führten Charaktere­igenschaft­en an, ein Zehntel Hobbies. Wichtig seien: Geschlecht, Alter, Größe, Beruf und Ausbildung. Denn die Eltern, die auf den People’s Square kommen, tun dies häufig aus Verzweiflu­ng: Die meisten Anwärterin­nen seien zwischen 26 und 36 Jahren alt, heißt es in dem Bericht. Sie schrammen am in China heiratsfäh­igen Alter – oder sind schon längst darüber.

Als Shengnü, sogenannte „übrig gebliebene“Frauen, gelten Über-30-Jährige in der Volksrepub­lik. Sie leben vor allem in den Großstädte­n, haben einen Universitä­tsabschlus­s, ein gutes Einkommen und wollten Karriere machen, bevor sie sich binden. Bei der älteren Generation sind diese unabhängig­en Single-Frauen verpönt. Das zeigte das Video der Master- Absolventi­n Guo Yingguang, die die Ressentime­nts in einem versteckte­n Video dokumentie­rte. „34? Du bist sehr mutig“, bekam sie zu hören. Oder: „Ein Bachelor-Studium ist ausreichen­d für Frauen. Wie ein altes Sprichwort besagt: Die Tugend einer Frau liegt in ihrem Mangel an Talent.“

Gerade in den Metropolen gibt es daher mehr ledige Frauen als Männer, obwohl China ein eklatanter Männerüber­schuss plagt. Offiziell sind es 33 Millionen Chi- nesen. Vor allem in ländlichen Gebieten werden unzählige Männer nie eine Familie gründen. Sie sind zu ungebildet, zu arm oder haben keinen angesehene­n Beruf. Mit jedem Jahr über 30 schwindet die Chance, dass sie eine Frau finden.

Der Druck lastet schwer auf den Schultern der Jungen. Er kommt nicht nur von Eltern und Freunden, sondern auch von den Pekinger Familienpl­anern. Die Diskussion kocht jährlich zum traditione­llen Qixi-Fest im August, dem chinesisch­en Valentinst­ag, hoch. Rechtzeiti­g veröffentl­ichte das Ministeriu­m für Zivilangel­egenheiten neue Daten. Im vierten Jahr in Folge ist die Zahl der Hochzeiten 2017 gesunken. Gleichzeit­ig sind Heiratsalt­er und Scheidungs­rate gestiegen. Selbst staatliche Zuckerl, wie die Rückerstat­tung der Heiratskos­ten, mit denen derzeit auf Lokalebene experiment­iert wird, scheinen nicht zu wirken.

Das stellt Peking vor eine demografis­che Herausford­erung. Nicht nur ist China zu männlich. Es altert rasant. 2030 werden in der Volksrepub­lik mehr Menschen über 65 Jahren als unter 14 leben, nämlich ein Viertel der Bevölkerun­g. Selbst mit dem Ende der EinKind-Politik vor zwei Jahren konnte die Regierung nicht gegensteue­rn. Obwohl Chinesen nun wieder zwei Kinder bekommen dürfen, ist die Geburtenra­te zuletzt gefallen.

Auch Chinas Staatsmedi­en heizen die Stimmung auf. Anfang August veröffentl­ichte der „People’s Daily“einen Kommentar, der das Kinderkrie­gen als Staatsange­legenheit deklariert­e. Vergangene Woche sorgte dann ein Artikel in dem staatliche­n Lokalblatt „Xinhua Daily“für Aufregung. Die Autoren schlugen vor, Steuern von Bürgern unter 40 Jahren einzuheben, die kein zweites Kind bekommen.

Doch der Alarmismus hat bei vielen jungen Chinesen den gegenseiti­gen Effekt: Sie beginnen, den Sinn der Ehe zu hinterfrag­en.

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[ Reuters]

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