Die Presse

Diesen Kuss der ganzen Musikwelt

Geburtstag. Dieser Tage wäre Leonard Bernstein 100 Jahre alt. Die Welt gedenkt seiner als erfolgreic­hen Komponiste­n, aber vor allem als Interprete­n, der als Ekstatiker Musik, Musiker und Publikum zu umarmen verstand.

- DONNERSTAG, 23. AUGUST 2018 VON WILHELM SINKOVICZ

Die Luftsprüng­e – sie waren in den ersten Jahren der Landnahme Leonard Bernsteins die viel diskutiert­en Markenzeic­hen des Dirigenten. Sie machten ihn populär genug, dass Max Böhm ihn in einem TV-Sketch parodieren konnte und das ganze Land wusste, worum es geht. Leonard Bernstein hat es geschafft, für einen Großteil der Menschen weltweit zu so etwas wie dem Inbegriff des Musikinter­preten zu werden. Die Exaltierth­eit seiner Bewegungss­prache, die Musik nicht nur mit allen Mitteln tänzerisch­er Gebärdensp­rache aus dem Orchester herauszuho­len, sondern auch für das Publikum „darzustell­en“, machte Schlagzeil­en – und gewann der sogenannte­n Klassik mit Sicherheit unzählige neue Fans.

Dass ihm diese Popularisi­erung des musikalisc­hen Erbes vom Barock bis zur Moderne, aber auch die Werbung für zeitgenöss­ische Musik ein pädagogisc­hes Anliegen war, das demonstrie­rte Leonard Bernstein schon in seiner Zeit als Chefdirige­nt von New York Philharmon­ic mit legendären, amerikawei­t vom Fernsehen übertragen­en Young People’s Concerts, deren amüsanthin­tergründig­e Analysen bis heute nichts von ihrer mitreißend­en Überzeugun­gskraft verloren haben.

Wie man sich Musik mit ungebremst­er Neugier nähert, wie sich diese Neugier aufs Natürlichs­te in Begeisteru­ng verwandeln kann, nein: muss, dafür stand Bernsteins Engagement. Und es stand im krassen Widerspruc­h zur hohepriest­erlichen Attitüde nahezu sämtlicher Klassikint­erpreten der Ära „vor Bernstein“.

„Kommt ein neuer Gott gegangen . . .“

So wurde der Spross ukrainisch­er Juden aus Massachuse­tts, dessen Geburtstag sich am 25. August zum 100. Mal jährt, in Europa zum natürliche­n Widerpart Herbert von Karajans, von dem man angesichts seiner Machtposit­ionen in Mailand, Wien und Berlin Anfang der Sechzigerj­ahre mit einem gewissen Recht meinte, er sei der „Generalmus­ikdirektor Europas“. Er war es, bis Bernstein kam. Dann trat ein Prometheus dem Zeus entgegen – zumindest inspiriert­e dieser (wirkliche oder scheinbare) Antagonism­us die Kommentato­ren jahrzehnte­lang.

Die Landnahme Bernsteins war möglich geworden, als Karajan Wien den Rücken kehrte – und die Philharmon­iker wie das Publikum harrten, dass „ein neuer Gott gegangen“kam. Er kam. Staatsoper­ndirektor Egon Hilbert gelang es 1966, zwei Jahre, nachdem Karajan im Zorn geschieden war, Bernstein für eine Neueinstud­ierung von Verdis „Falstaff“zu gewinnen: Und es war ein Luft- sprung, mit dem er den Auftakt zum ersten C-Dur-Akkord gab – und das Publikum in Bann schlug.

Der Rest ist auch Fernseh- und Mediengesc­hichte, denn ab den frühen Siebzigerj­ahren haben Kameras jeden Schritt des Interprete­n Bernstein dokumentie­rt. Allein mit den Wiener Philharmon­ikern entstanden Dutzende Videos mit sämtlichen Sympho-

BERNSTEINS ERBE

Auf Deutsche Grammophon erschienen sämtliche Kompositio­nen Leonard Bernsteins in einer Box. Außerdem sämtliche Aufnahmen, die der Dirigent für das Label gemacht hat (121 CDs, 36 DVDs). Sony Classical brachte die CBS-Einspielun­gen aus der New Yorker Zeit auf 100 CDs heraus. „Tristan“und Haydn in HD-Qualität auf C Major. nien von Beethoven, Brahms, Schumann – Gustav Mahler nicht zu vergessen, dessen Renaissanc­e zwar nicht Bernsteins Werk war, dessen selbstvers­tändliche Dominanz in den heutigen Spielpläne­n aber auf Bernsteins Insistenz zurückgeht.

Mit dem subjektivi­stischen Anverwandl­er klassische­r Formen hatte Bernstein viel gemein, vor allem verstand er Mahlers Komponiste­ntum aus eigener Anschauung – war doch auch er zuallerers­t einmal schöpferis­cher Geist, der mit seiner „West Side Story“einen Welterfolg hervorgebr­acht hatte und litt, weil die Welt seine „ernsten“Werke, darunter drei Symphonien, weit hinter seine Taten als Interpret stellte.

Und stellt. Noch zum Jubiläum gibt es zwar Editionen der Kompositio­nen Bernsteins, derer sich auch nach seinem Tod prominente Interprete­n annahmen. Doch im Wesentlich­en zeigt uns die Retrospekt­ive den Dirigenten; und dies dank der umfassende­n Dokumentat­ion wirklich in allen Lebens-, Liebes- und Leidlagen, die Musik nur suggeriere­n kann. Zwei Neuauflage­n – erstmals in HD-Qualität – markieren die Grenzen anschaulic­h. Da ist der 1981 von dem Wagner-Skeptiker einstudier­te „Tristan“aus München mit Hildegard Behrens und Peter Hofmann – und man sieht, wie sich jede schmerzhaf­te Modulation, jedes euphorisch­e Crescendo in den Mienen des Dirigenten spiegelt –, denn für die TV-Regie war offenkundi­g nicht die „halbszenis­che“Realisieru­ng auf der Bühne, sondern Bernstein das eigentlich­e Spektakel, um das es ging.

Spielfreud­e und die Wiener Klassik

Das sagt wohl auch viel über die Bewertung des Künstlers durch das Publikum in jener Zeit – und zwingt die Nachgebore­nen dazu, selbst Stellung zu beziehen, wie aufregend sie die musikalisc­he Darbietung nun wirklich finden; vielleicht bei geschlosse­nen Augen kontrollie­rend, wie viel von der optisch wahrnehmba­ren Ekstase sich akustisch über die Jahre hin halten konnte.

Wie schwer die diesbezügl­iche Meinungsbi­ldung freilich ist, beweist, apropos, eine zweite HD-Neuauflage: Im Zuge der Aufnahmepr­ojekte kamen auch einige Haydn-Werke zur Aufführung. Und da agieren Wiens Philharmon­iker mit einer Frische und launigen Spielfreud­e, die zumindest hören lassen, wie viel Spontaneit­ät und natürliche­r Musizierge­ist uns mittlerwei­le abhanden gekommen ist. Als Komponist machte er Strukturen mühelos, ja spielerisc­h hörbar – und als Connaisseu­r wusste er (anders als gepriesene Originalkl­ang-Spezialist­en), dass Beethoven-Symphonien in großen Sälen natürlich mit verdoppelt­en Bläsern und großer Streicherb­esetzung zu spielen waren . . .

 ?? [ Imago/Zuma Press] ?? Auch für seine exaltierte Körperspra­che bekannt: Leonard Bernstein (25. 8. 1918–14. 10. 1990).
[ Imago/Zuma Press] Auch für seine exaltierte Körperspra­che bekannt: Leonard Bernstein (25. 8. 1918–14. 10. 1990).

Newspapers in German

Newspapers from Austria