Diesen Kuss der ganzen Musikwelt
Geburtstag. Dieser Tage wäre Leonard Bernstein 100 Jahre alt. Die Welt gedenkt seiner als erfolgreichen Komponisten, aber vor allem als Interpreten, der als Ekstatiker Musik, Musiker und Publikum zu umarmen verstand.
Die Luftsprünge – sie waren in den ersten Jahren der Landnahme Leonard Bernsteins die viel diskutierten Markenzeichen des Dirigenten. Sie machten ihn populär genug, dass Max Böhm ihn in einem TV-Sketch parodieren konnte und das ganze Land wusste, worum es geht. Leonard Bernstein hat es geschafft, für einen Großteil der Menschen weltweit zu so etwas wie dem Inbegriff des Musikinterpreten zu werden. Die Exaltiertheit seiner Bewegungssprache, die Musik nicht nur mit allen Mitteln tänzerischer Gebärdensprache aus dem Orchester herauszuholen, sondern auch für das Publikum „darzustellen“, machte Schlagzeilen – und gewann der sogenannten Klassik mit Sicherheit unzählige neue Fans.
Dass ihm diese Popularisierung des musikalischen Erbes vom Barock bis zur Moderne, aber auch die Werbung für zeitgenössische Musik ein pädagogisches Anliegen war, das demonstrierte Leonard Bernstein schon in seiner Zeit als Chefdirigent von New York Philharmonic mit legendären, amerikaweit vom Fernsehen übertragenen Young People’s Concerts, deren amüsanthintergründige Analysen bis heute nichts von ihrer mitreißenden Überzeugungskraft verloren haben.
Wie man sich Musik mit ungebremster Neugier nähert, wie sich diese Neugier aufs Natürlichste in Begeisterung verwandeln kann, nein: muss, dafür stand Bernsteins Engagement. Und es stand im krassen Widerspruch zur hohepriesterlichen Attitüde nahezu sämtlicher Klassikinterpreten der Ära „vor Bernstein“.
„Kommt ein neuer Gott gegangen . . .“
So wurde der Spross ukrainischer Juden aus Massachusetts, dessen Geburtstag sich am 25. August zum 100. Mal jährt, in Europa zum natürlichen Widerpart Herbert von Karajans, von dem man angesichts seiner Machtpositionen in Mailand, Wien und Berlin Anfang der Sechzigerjahre mit einem gewissen Recht meinte, er sei der „Generalmusikdirektor Europas“. Er war es, bis Bernstein kam. Dann trat ein Prometheus dem Zeus entgegen – zumindest inspirierte dieser (wirkliche oder scheinbare) Antagonismus die Kommentatoren jahrzehntelang.
Die Landnahme Bernsteins war möglich geworden, als Karajan Wien den Rücken kehrte – und die Philharmoniker wie das Publikum harrten, dass „ein neuer Gott gegangen“kam. Er kam. Staatsoperndirektor Egon Hilbert gelang es 1966, zwei Jahre, nachdem Karajan im Zorn geschieden war, Bernstein für eine Neueinstudierung von Verdis „Falstaff“zu gewinnen: Und es war ein Luft- sprung, mit dem er den Auftakt zum ersten C-Dur-Akkord gab – und das Publikum in Bann schlug.
Der Rest ist auch Fernseh- und Mediengeschichte, denn ab den frühen Siebzigerjahren haben Kameras jeden Schritt des Interpreten Bernstein dokumentiert. Allein mit den Wiener Philharmonikern entstanden Dutzende Videos mit sämtlichen Sympho-
BERNSTEINS ERBE
Auf Deutsche Grammophon erschienen sämtliche Kompositionen Leonard Bernsteins in einer Box. Außerdem sämtliche Aufnahmen, die der Dirigent für das Label gemacht hat (121 CDs, 36 DVDs). Sony Classical brachte die CBS-Einspielungen aus der New Yorker Zeit auf 100 CDs heraus. „Tristan“und Haydn in HD-Qualität auf C Major. nien von Beethoven, Brahms, Schumann – Gustav Mahler nicht zu vergessen, dessen Renaissance zwar nicht Bernsteins Werk war, dessen selbstverständliche Dominanz in den heutigen Spielplänen aber auf Bernsteins Insistenz zurückgeht.
Mit dem subjektivistischen Anverwandler klassischer Formen hatte Bernstein viel gemein, vor allem verstand er Mahlers Komponistentum aus eigener Anschauung – war doch auch er zuallererst einmal schöpferischer Geist, der mit seiner „West Side Story“einen Welterfolg hervorgebracht hatte und litt, weil die Welt seine „ernsten“Werke, darunter drei Symphonien, weit hinter seine Taten als Interpret stellte.
Und stellt. Noch zum Jubiläum gibt es zwar Editionen der Kompositionen Bernsteins, derer sich auch nach seinem Tod prominente Interpreten annahmen. Doch im Wesentlichen zeigt uns die Retrospektive den Dirigenten; und dies dank der umfassenden Dokumentation wirklich in allen Lebens-, Liebes- und Leidlagen, die Musik nur suggerieren kann. Zwei Neuauflagen – erstmals in HD-Qualität – markieren die Grenzen anschaulich. Da ist der 1981 von dem Wagner-Skeptiker einstudierte „Tristan“aus München mit Hildegard Behrens und Peter Hofmann – und man sieht, wie sich jede schmerzhafte Modulation, jedes euphorische Crescendo in den Mienen des Dirigenten spiegelt –, denn für die TV-Regie war offenkundig nicht die „halbszenische“Realisierung auf der Bühne, sondern Bernstein das eigentliche Spektakel, um das es ging.
Spielfreude und die Wiener Klassik
Das sagt wohl auch viel über die Bewertung des Künstlers durch das Publikum in jener Zeit – und zwingt die Nachgeborenen dazu, selbst Stellung zu beziehen, wie aufregend sie die musikalische Darbietung nun wirklich finden; vielleicht bei geschlossenen Augen kontrollierend, wie viel von der optisch wahrnehmbaren Ekstase sich akustisch über die Jahre hin halten konnte.
Wie schwer die diesbezügliche Meinungsbildung freilich ist, beweist, apropos, eine zweite HD-Neuauflage: Im Zuge der Aufnahmeprojekte kamen auch einige Haydn-Werke zur Aufführung. Und da agieren Wiens Philharmoniker mit einer Frische und launigen Spielfreude, die zumindest hören lassen, wie viel Spontaneität und natürlicher Musiziergeist uns mittlerweile abhanden gekommen ist. Als Komponist machte er Strukturen mühelos, ja spielerisch hörbar – und als Connaisseur wusste er (anders als gepriesene Originalklang-Spezialisten), dass Beethoven-Symphonien in großen Sälen natürlich mit verdoppelten Bläsern und großer Streicherbesetzung zu spielen waren . . .