Haben Sie schon einmal vor einem Bild geweint? Nein?
Im Theater, in der Oper, im Konzert – meine Tränen fließen. Nie aber in Museen. Das hat vielleicht etwas mit Gleichzeitigkeit und Ewigkeit zu tun.
Ewig, dafür tränenlos: das Los der bildenden Kunst.
Wenn man meint, jemand ist „nahe am Wasser gebaut“, dann meint man mich. Die Rührung stürzt mir bei jeder Gelegenheit aus dem Gesicht. Besonders in Theater, Oper und Konzert, besonders oft in Salzburg, warum auch immer. Das Schluchzen zur Netrebko-„Traviata“2005 ist vielleicht einer späten Pubertät zuzuschreiben, hat mir aber trotzdem ein Seidenkleid ruiniert. Ein Jahr zuvor musste ich bei „Eines langen Tages Reise in die Nacht“im Salzburger Landestheater fast den Zuschauerraum verlassen. Es ist peinlich.
Zuletzt, Montag erst, kamen mir die Tränen beim Liederabend von Florian Boesch in Salzburg, wo sonst. Es ging ums Reisen, auch ums Reisen des Wiener Klangs von Schubert über Mahler bis Krenek. So schön und klug war das. Da half auch die lakonische Performance des Sängers nichts.
Warum ich prinzipiell immer gerührt bin, wenn nach großen Vorstellungen die Spannung sich entlädt, der Jubel losbricht und die Akteure sich verbeugen, könnte mir wohl ein Therapeut erklären, aber so genau will ich es dann doch nicht wissen.
Genau weiß ich dafür, dass vor bildender Kunst eher selten die Tränen fließen. Oder haben Sie schon einmal Museumswärter erlebt, die Taschentücher bereithalten? Weinende Gestalten, die im MoMA oder Metropolitan Museum mit laufenden Nasen zu den Toiletten drängen? Hat Sie überhaupt je ein Gemälde, eine Skulptur, eine Zeichnung emotional derart überwältigt? Ewig dankbar bin ich für diese kühle Ratiolastigkeit als Kritikerin. Wie sollte ich sehen, wenn ein Schleier mich am Denken hindert? Und umgekehrt? Nie könnte ich daher ernsthaft über Musik, Theater, Kino schreiben (von Künstlerfilmen abgesehen, diese sind meist so schlecht, dass selbst mir keine Träne auskommt).
Warum ist das so? Gut, es gibt sicher Ausnahmen. Hermann Nitsch vor dem Isenheimer Altar wahrscheinlich. Kunstkritikerpapst Jerry Saltz outete auf Facebook seine Rührung angesichts von Höhlenmalerei in Frankreich (er ist Amerikaner), bei Matthew Barneys „Cremaster 5“(ist auch eher ein Spielfilm) und in der Hagia Sophia (Architektur gilt nicht). Kein Gemälde, weder historisch, schon gar nicht zeitgenössisch, nennt er.
Zwei Ideen dazu: Rührung vor dem Bild funktioniert, wenn die Aufladung mit persönlichem oder kulturellem „Drama“derart stark ist, dass sie die Statik des Eindrucks, den ein Bild auf der Netzhaut macht, aufzuheben imstande ist. Wenn man sich etwa auf eine lange Reise macht, nur um ein Bild zu sehen. Rothkos Kapelle in Houston zum Beispiel. Dann ist das Bild Teil einer Erzählung, einer zeitlichen Dramaturgie. Wie sie Gebäude, Filme, Musik, Theater und in gewissem Sinn auch die Fotografie eint. Man wird herangeführt, aufgeladen, entlassen. Beim Bild dagegen ist alles immer sofort da. Man sieht alles und nichts, muss es sich erst erarbeiten, visuell, intellektuell, emotional. Dann bleibt es dafür auch. Tränenlos, aber ewig. Fluch und Segen.