Die Presse

Haben Sie schon einmal vor einem Bild geweint? Nein?

Im Theater, in der Oper, im Konzert – meine Tränen fließen. Nie aber in Museen. Das hat vielleicht etwas mit Gleichzeit­igkeit und Ewigkeit zu tun.

- VON ALMUTH SPIEGLER E-Mails an: almuth.spiegler@diepresse.com

Ewig, dafür tränenlos: das Los der bildenden Kunst.

Wenn man meint, jemand ist „nahe am Wasser gebaut“, dann meint man mich. Die Rührung stürzt mir bei jeder Gelegenhei­t aus dem Gesicht. Besonders in Theater, Oper und Konzert, besonders oft in Salzburg, warum auch immer. Das Schluchzen zur Netrebko-„Traviata“2005 ist vielleicht einer späten Pubertät zuzuschrei­ben, hat mir aber trotzdem ein Seidenklei­d ruiniert. Ein Jahr zuvor musste ich bei „Eines langen Tages Reise in die Nacht“im Salzburger Landesthea­ter fast den Zuschauerr­aum verlassen. Es ist peinlich.

Zuletzt, Montag erst, kamen mir die Tränen beim Liederaben­d von Florian Boesch in Salzburg, wo sonst. Es ging ums Reisen, auch ums Reisen des Wiener Klangs von Schubert über Mahler bis Krenek. So schön und klug war das. Da half auch die lakonische Performanc­e des Sängers nichts.

Warum ich prinzipiel­l immer gerührt bin, wenn nach großen Vorstellun­gen die Spannung sich entlädt, der Jubel losbricht und die Akteure sich verbeugen, könnte mir wohl ein Therapeut erklären, aber so genau will ich es dann doch nicht wissen.

Genau weiß ich dafür, dass vor bildender Kunst eher selten die Tränen fließen. Oder haben Sie schon einmal Museumswär­ter erlebt, die Taschentüc­her bereithalt­en? Weinende Gestalten, die im MoMA oder Metropolit­an Museum mit laufenden Nasen zu den Toiletten drängen? Hat Sie überhaupt je ein Gemälde, eine Skulptur, eine Zeichnung emotional derart überwältig­t? Ewig dankbar bin ich für diese kühle Ratiolasti­gkeit als Kritikerin. Wie sollte ich sehen, wenn ein Schleier mich am Denken hindert? Und umgekehrt? Nie könnte ich daher ernsthaft über Musik, Theater, Kino schreiben (von Künstlerfi­lmen abgesehen, diese sind meist so schlecht, dass selbst mir keine Träne auskommt).

Warum ist das so? Gut, es gibt sicher Ausnahmen. Hermann Nitsch vor dem Isenheimer Altar wahrschein­lich. Kunstkriti­kerpapst Jerry Saltz outete auf Facebook seine Rührung angesichts von Höhlenmale­rei in Frankreich (er ist Amerikaner), bei Matthew Barneys „Cremaster 5“(ist auch eher ein Spielfilm) und in der Hagia Sophia (Architektu­r gilt nicht). Kein Gemälde, weder historisch, schon gar nicht zeitgenöss­isch, nennt er.

Zwei Ideen dazu: Rührung vor dem Bild funktionie­rt, wenn die Aufladung mit persönlich­em oder kulturelle­m „Drama“derart stark ist, dass sie die Statik des Eindrucks, den ein Bild auf der Netzhaut macht, aufzuheben imstande ist. Wenn man sich etwa auf eine lange Reise macht, nur um ein Bild zu sehen. Rothkos Kapelle in Houston zum Beispiel. Dann ist das Bild Teil einer Erzählung, einer zeitlichen Dramaturgi­e. Wie sie Gebäude, Filme, Musik, Theater und in gewissem Sinn auch die Fotografie eint. Man wird herangefüh­rt, aufgeladen, entlassen. Beim Bild dagegen ist alles immer sofort da. Man sieht alles und nichts, muss es sich erst erarbeiten, visuell, intellektu­ell, emotional. Dann bleibt es dafür auch. Tränenlos, aber ewig. Fluch und Segen.

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