Wie man die Migrationslotterie beendet
Einwanderung. Der Ökonom Robert Holzmann hat für die Weltbank ein Migrationsmodell für Afghanistan entworfen, das beiden Seiten Vorteile brächte. Das ließe sich auch auf Europa anwenden – wenn man das „Wirtschaftsasyl“abstellt.
Migration spielt sich derzeit in Europa überwiegend außerhalb der Kontrolle von Zielländern ab: Wer aus der Dritten Welt oder dem arabischen Raum nach Europa darf, bestimmen im Wesentlichen kriminelle Schlepperorganisationen. Selbst die (in letzter Zeit schon zweimal erfolgreichen) gewalttätigen Angriffe auf die spanische Grenze in Ceuta werden, wie die in diesem Punkt unverdächtige linksliberale spanische Tageszeitung „El Pa´ıs“gestern berichtete, von Schlepperbanden organisiert: Stürmen darf, wer vorher zahlt.
Für Europa, dessen Regierungen diesem Phänomen in überwiegender Zahl völlig hilflos gegenüberstehen, ist das ein riesiges Problem, das nicht nur die Sozialsysteme, sondern die gesamte Gesellschaft extrem belastet: Zwar braucht der überalternde Kontinent Zuwanderung in nicht geringem Ausmaß. Aber diese sollte (außerhalb einer exakt geregelten Asylschiene) eine in den Arbeitsmarkt sein, nicht eine in die Sozialsysteme.
Europa schafft das zurzeit nicht, weil die Trennung zwischen Asyl und Arbeitsmigration abhanden gekommen ist. Was wir gerade erleben, nennt der Ökonom und frühere Weltbankdirektor Robert Holzmann (der, wie es aussieht, 2019 die Führung der Oesterreichischen Nationalbank übernehmen wird) „Wirtschaftsasyl“. Und das bringe in viel zu hohem Ausmaß „unausgebildete Migration“ins Land. Eine Art Lotterie, die von den europäischen Ländern nicht kontrolliert werden kann und in der sie die Verlierer sind.
Das Phänomen ist auf Europa beschränkt. Außerhalb macht man sich durchaus Gedanken darüber, wie man unvermeidliche Migrationsströme von Entwicklungsländern mit hohem Bevölkerungsdruck in hoch entwickelte Industrieländer mit demografischen Problemen so gestalten kann, dass sie beiden Seiten Nutzen bringen.
Denn den „Entsendeländern“bringt der „Export“von Arbeitskräften, egal ob geregelt oder ungeregelt, enorme Vorteile: Die Überweisungen von Migranten in die Heimatländer machten laut Weltbank im Vorjahr stolze 613 Mrd. Dollar aus. Davon gingen 466 Milliarden in Entwicklungsländer – dreimal so viel wie die offizielle Entwicklungshilfe, die dort hinfließt. Ohne diese Überweisungen (die im Extremfall bis zu 25 Prozent des BIP ausmachen) würde in vielen afrikanischen Ländern wirtschaftlich schnell das Licht ausgehen. Das ist übrigens einer der wichtigsten Gründe dafür, dass sich viele Herkunftsländer der „Wirtschaftsasylanten“gar so sehr gegen die Rücknahme ihrer abgelehnten Staatsbürger sträuben.
Die Weltbank hat nun ein Projekt mit Afghanistan laufen, das eine Art Muster für geregelte Migration werden könnte. Führend involviert in das Projekt, dessen Implementierung in Kabul bereits begonnen hat, ist der Österreicher Holzmann. Es geht vordergründig nicht um Migration nach Europa, denn afghanische Migranten gehen vorwiegend in die Nachbarländer Pakistan und Iran (ungeregelt) sowie als Gastarbeiter in die Golfstaaten. Und zwar in großer Zahl: Jährlich drängen zusätzlich 400.000 Menschen in einen inländischen Arbeitsmarkt, der kaum wächst und keine Jobs zu bieten hat.
Eine von Holzmann für die Weltbank verfasste Studie („Afghanistan: Managed International Labor Mobility As Contribution to Economic Development And Growth“) legt die Grundzüge des Weltbank-Plans vor, dessen Verwirklichung schon in den ersten Jahren bis zu 100.000 Afghanen offiziell und regulär Jobs im Ausland verschaffen und das afghanische BIP durch Rücküberweisungen und inländische Effekte um einige Prozentpunkte heben könnte.
Kern sind zwischenstaatliche Vereinbarungen (ähnlich denen der Gastarbeiteranwerbung in den Sechzigerjahren in Europa), in denen genau festgelegt ist, wie viele Menschen mit welchen Qualifikationen in welche Länder gehen können. Wobei der Schwerpunkt auf zeitlich begrenzten Verträgen liegen soll. Was freilich bedeutet, dass die Zielländer nach Ablauf des Vertrags auch strikt auf die Rückkehr bestehen müssten. In Europa ist dies derzeit nicht der Fall.
Für die Zielländer bedeutet das, dass sie dringend benötigte Arbeitskräfte mit der verlangten Qualifikation bekämen, ohne durch eine Zuwanderungslotterie ihre Sozialsysteme über Gebühr zu belasten.
Und für die „Entsendeländer“, in diesem Fall Afghanistan, würde das viel Druck vom lokalen Arbeitsmarkt nehmen, für einen stabilen, planbaren Geldrückfluss sorgen.
Aus dem befürchteten „Brain Drain“durch Auswanderung könnte in diesem Fall ein „Brain Gain“werden. Denn erstens würden temporär im Ausland tätige Arbeitskräfte viel Know-how aus Industrieländern zurückbringen. Und zweitens würde das die Qualifikation im Inland selbst für jene verbessern, die nicht zum Zug kommen. Denn wenn für lukrative Jobs im Ausland bestimmte Qualifikationen Voraussetzung sind (und das der einzige Weg für Arbeitsmigration ist), dann steigt die Motivation, sich Bildung anzueignen. Auch in einem Land mit (unter anderem kriegsbedingt) sehr niedrigem Bildungsniveau.
Das klingt nach einem logischen Konzept, das sich durchaus ausweiten und auch auf die Einwanderung nach Europa anwenden ließe. Dazu ist freilich eine völlige politische Kehrtwendung nötig. Denn Konzepte für „Managed Migration“hat ja auch die EU in der Schublade. Sie sind allerdings entweder zu restriktiv. Oder schlicht das Papier nicht wert, so lange „Wirtschaftsasyl“nicht konsequent abgestellt wird. Denn wenn man einfach weiter ungeregelte Zuwanderung als eine Art unabwendbares Schicksal akzeptiert, ergeben zusätzliche Vereinbarungen über Arbeitsmigration wenig Sinn. Das brächte weder den Ziel- noch den Entsendeländern die beschriebenen positiven Effekte.
Das Ganze ist jetzt natürlich eine Frage des politischen Willens. Da sind die EU-Länder, wie die jüngsten Ereignisse in Italien und Spanien zeigen, freilich noch sehr, sehr weit von einer tragbaren Lösung entfernt. Vorschläge dafür gäbe es jedenfalls.