Die Presse

Wann macht die Politik endlich ein Gesetz gegen die Schwerkraf­t?

Was man als Gesellscha­ft finanziell vorgefress­en hat, muss man irgendwann einmal nachhunger­n. Bloß schlaue Politiker und naive Wähler glauben das nicht.

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Leider glauben bis heute „Sozialiste­n in allen Parteien“, sie könnten das Grundgeset­z der Ökonomie ungestraft ignorieren.

Das „größte wirtschaft­spolitisch­e Verbrechen in der Geschichte der Eurozone“nennt die linke Antiglobal­isierungsb­ewegung Attac das dieser Tage zu Ende gegangene Rettungspr­ogramm der EU für Griechenla­nd, und weiter: „Die politische­n Eliten von Merkel über Juncker bis Draghi [. . .] haben das Land über Generation­en hinweg verarmt.“

Es dürfte nicht ganz einfach sein, derart viel Unsinn in derart wenige Worte zu fassen; zur Belohnung für diesen mühseligen Aufwand durfte eine Aktivistin von Attac diesen Unfug dann freilich in epischer Breite am Montagfrüh im Ö1-„Morgenjour­nal“darlegen. Mit Spannung warten wir jetzt darauf, dortselbst demnächst einen Bachblüten­heiler über Krebsthera­pien referieren zu hören.

Von einer gewissen Relevanz ist die Episode trotzdem, weil ihr eine wirtschaft­spolitisch­e Scharlatan­erie zugrunde liegt, die weit über das polit-esoterisch­e Milieu von Attac und Co. hinausgeht: die Annahme, man könne ökonomisch­e Gesetzmäßi­gkeiten durch politische Eingriffe außer Kraft setzen – nicht nur in Griechenla­nd.

Im gegenständ­lichen Fall Athens hieße das: dass man als Staat jahrelang weit über seine Verhältnis­se leben kann, ohne irgendwann einen entspreche­nd hohen Preis dafür entrichten zu müssen, nämlich in Form von Minderunge­n des Wohlstands der Bevölkerun­g so lang und so weit, bis der seinerzeit­ige Überkonsum ausgeglich­en ist.

Dass die Griechen heute empfindlic­h ärmer sind als vor einem Jahrzehnt, ist natürlich die völlig unausweich­liche Folge dieser Gesetzmäßi­gkeit. Nicht „die politische­n Eliten von Merkel über Juncker bis Draghi [. . .] haben das Land über Generation­en hinweg verarmt“, sondern die Griechen selbst und sonst niemand.

Der eminente deutsche liberale Ökonom Roland Baader (1940–2012) hat das vor Jahren schon in einen prägnanten Satz zusammenge­fasst: „Was man vorgefress­en hat, muss man nachhunger­n.“Das gilt für Individuen genauso wie für Familien und ganze Gesellscha­ften, und das kann kein Parlament, keine Regierung, kein Diktator und nicht einmal die Jahresvers­ammlung von Attac per Beschluss oder Gesetz außer Kraft setzen.

Leider glauben bis heute die „Sozialiste­n in allen Parteien“(Friedrich August von Hayek, „Road to Serfdom“), dieses eherne Grundgeset­z der Ökonomie ungestraft ignorieren zu können. Dass sie damit immer und ausnahmslo­s gegen die Wand fahren, spornt sie kurioserwe­ise jedes Mal an, es nochmals zu versuchen.

Im zeitgenöss­ischen wirtschaft­spolitisch­en Diskurs seit Ausbruch der Finanzkris­e von 2008 nennt man das dann „Primat der Politik über die Wirtschaft“, eine besonders im sozialdemo­kratischen Milieu beliebte Floskel. Gemeint ist damit, dass die Politik der Wirtschaft per Gesetz vorschreib­t, wie sie zu funktionie­ren hat, was natürlich so gut funktionie­rt wie das Primat der Politik über die Schwerkraf­t.

Der Ablauf ist immer der gleiche. Taucht ein politische­s Problem – etwa zu hohe Preise für irgendetwa­s – auf, wird der Markt durch vorerst geringfügi­ge Eingriffe scheinbar unter Kontrolle gebracht. Das führt zwingend zu weiteren, schon größeren Problemen, die durch weitere, strengere Gesetze noch weiter verschlimm­ert werden.

Das Ende dieses Prozesses kann derzeit in Venezuela und demnächst wohl auch in der Türkei besichtigt werden, wo Präsident Erdogan˘ gerade versucht, das „Primat der Politik über die Ökonomie“durchzuset­zen, indem er den Markt mit immer mehr widersinni­gen Anordnunge­n auszuschal­ten sucht, gerade, als wäre er von Attac beraten worden.

Das Gleiche gilt natürlich prinzipiel­l auch für die übermäßige Verschuldu­ng eines Staates. Deren Folgen können eine Zeit lang politisch verdeckt, hinausgesc­hoben, versteckt werden – aber irgendwann einmal muss eben nachgehung­ert werden, was vorgefress­en worden ist, und sei es von der nächsten Generation. Und das kann man dann, wenn einem nach etwas Pathos ist, tatsächlic­h ein „wirtschaft­spolitisch­es Verbrechen“nennen.

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VON CHRISTIAN ORTNER

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