Durch Staub und Schimmel
sind Systeme der Deutung, Orte der Sucht und Macht. Der richtige Riecher ist genauso notwendig wie fundierte Quellenkritik. Über das Arbeiten zwischen Aktenbergen.
Der eigentliche und unverwechselbare Geschmack Europas ist in den Archiven zu finden. In abgelegenen, kaltgepressten Papieren. Die Aktendepots sind gespickt mit lokalen, regionalen und nationalen Aromen, die sich immer dann entfalten, wenn sie mit geistiger Auseinandersetzung versetzt werden. Archive sind, Küchen ähnlich, Orte der Sucht und der Macht. Im Dunkel ihrer Räume fällt manches Mal durch ein Nadelöhr der Erkenntnis Licht auf die Geschichte – trüb meist, bisweilen dämmernd, selten grell. Einen verlässlichen Kompass durch die äußeren Architekturen und inneren Ordnungen des Wissens, ihre Hoheiten und Niederungen, ihre Prinzipien von Provenienz bis Pertinenz, gibt es nicht. In der ungeschriebenen Präambel für Nutzende könnte es heißen: „Nur wer sucht, findet. Und wer etwas findet, hat vermutlich anderes gesucht.“
Mit solchen und anderen Paradoxien muss man in Archiven nicht nur rechnen, sondern leben. Hier gilt es, immer neu die eigenen Ressourcen zu taxieren – Vorwissen, Aufmerksamkeit, Motivation –, um Illusionen und Überforderungen zu entgehen. Und etwas zu kultivieren, was man den „richtigen Riecher“nennt. In der Auseinandersetzung mit historischen Akten empfiehlt es sich, die Wahrnehmungen in einer Art abgesichertem Modus laufen zu lassen. Auf einer Frequenz, die einerseits stetig und diszipliniert aussondert, andererseits Irritationen registriert und das Glück des Findens nicht ausschließt.
Wer diesen Kick einmal erlebt hat, kann nur schwer der Versuchung widerstehen, ihn aufs Neue zu provozieren. Um es nicht schönzureden: Diese exklusive Erfahrung hat ihren Preis. Jacques Derrida hat das in „Mal d’Archive“auf den Punkt gebracht: „Archivübel“und „Verlangen nach dem Archiv“entspringen derselben Wurzel. Dabei kann es staubtrocken sein oder feucht und schimmlig. Alles überzieht ein Schmutzfilm, den man in einer Art Ritual beiseite wischen muss. Denn in den Archiven befindet sich das Wissen in einem anderen Aggregatzustand als etwa in Bibliotheken: Es ist roh, disparat, verlegen, versteckt, sperrig, dreckig. Zu einem guten Teil in Formaten und Zuständen, die eben nicht nur intellektuell, sondern manchmal auch körperlich, emotional, seelisch bewältigt werden müssen. „Le gouˆt de l’archive“– so hat es die französische Historikerin Arlette Farge in ihrem Buch beschrieben.
Die Archive sind tot und stecken doch voller Leben. Das Unheimliche, Ungeheuerliche dieser Konstellation hat der Medienarchäologe Wolfgang Ernst benannt, wenn er vom „Rumoren der Archive“spricht. Vordergründig mögen das Projektionen oder Fantasien überhitzter Historiker sein. Natürlich haben Archive kein Eigenleben oder gar ein Bewusstsein, es sind einigermaßen träge Verwaltungsapparate, die von Beamten in Gang gehalten werden. „De facto sind Archive nichts anderes als Aufbewahrungs- speicher für Dokumente“, stellt Peter Melichar lapidar fest. Und er tritt noch ein bisschen nach, wenn er von der „deformation´ professionelle“der Historiker spricht, die glauben, dass Funde schon gleichbedeutend mit Forschung seien.
Diese kritische Bemerkung unterstellt allerdings ein Nacheinander, wo ein Ineinander stattfindet, sie ignoriert eine Realität des Archivs, die man spätestens seit Foucaults „Archäologie des Wissens“nicht ignorieren darf: Alle, die mit historischen Akten arbeiten, sollten stets den Ort der Aufbewahrung in ihre Analyse mit einbeziehen und nach Möglichkeit den Weg rekonstruieren, auf dem diese dorthin gelangt sind. Diese „Transferkunde“ist ein konstitutiver Teil der Quellenkritik. Staatliche und kirchliche, wissenschaftliche und private Archive repräsentieren spezielle Verhältnisse der Macht und deren Legitimation. Sie sind Systeme der Deutung und erschöpfen sich nicht darin, bloße oder gar zufällige Sammlungen von Altpapier zu sein.
Jedes Archiv, das diesen Namen verdient, hat eine penible Ordnung. Es verfügt über Schaltstellen, die den Zustrom neuer Dokumente regeln, über Erhaltung oder
Matthias Opis, geboren 1964, Mag. art., ist Historiker und Geschäftsführer der Styria Buchverlage. Vernichtung, Sammlung oder Zerstreuung entscheiden. Die Macht der Archive, deren langer Arm sich an Sperrfristen zeigt, kann mehrfach aufgeladen, gefiltert oder gebrochen sein: zuerst durch die Aktenpläne und Registraturen der Behörden oder anderer den Bestand bildender Stellen, dann im Vollzug der Abgabe an das Archiv und der Bewertung durch die Archivare und schließlich durch nachträgliche Neuordnung der Archivalien oder deren Skartierung.
Wenn mit historischen Unterlagen gearbeitet wird, sollten diese nahezu unsichtbaren Wasserzeichen der Archivwürdigkeit berücksichtigt werden, die die Quelle in ihrem Kontext fixieren. Aber nicht nur der Inhalt und der Weg der Akten ist von Bedeutung, auch ihre Materialität. Ein Originaldokument ist ein „Schrift-Stück“. Man kann es angreifen, umblättern, gegen das Licht halten. Man kann nachträgliche Korrekturen oder Zusätze identifizieren. Man kann daran riechen, die Beschaffenheit des Papiers spüren, über den Gebrauch befinden. Man kann prüfen, ob die Nachbardokumente im Konvolut ursprünglich da waren oder erst später zugezogen sind. Man kann auf und zwischen den Blättern nach den echten wie nach den künstlichen Leerstellen fahnden.
Man kann die Quellen zum Sprechen bringen, indem man ihnen, in der Stille des Archivs, die eigene Stimme leiht. In einem Gedicht der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska heißt es, „die Sprache gewinnt im Munde Sinn“. Alle diese Prozesse des Aneignens kennen digitale Archive nicht, sie können sie auch nicht evozieren. In ihnen ist das Faltige des Papiers in Pixeln aufgebügelt, das Unverwaschene steril geworden. Die Digitalisierung ihrer Bestände ist für Archive zwar ein publikumswirksamer Schritt, mit dem sie Zugriffe aus allen Winkeln der Welt ermöglichen, ihre Inhalte bringen sie damit zwangsläufig unter Normierungsund Nivellierungsdruck.
So lösen sich die Inhalte nach und nach von den Originalen und ihren Orten ab. Das digitale Archiv gerät in den Strudel der Konvergenz. Es wäre fatal, auf den Bestand und Gebrauch dieser gewachsenen Archive zu verzichten. Die darin konservierten Quellen und Spurenelemente drohen sonst in Vergessenheit zu geraten oder sich im Netz zu verflüchtigen.
Die Historiker sollten, soweit als irgend möglich, dem faulen Kompromiss widerstehen, sich das Material für ihre Arbeit herunterzuladen. Jene Vorgänge der „Spurensicherung“, die der italienische Historiker Carlo Ginzburg auf so beeindruckende Weise beschrieben hat, finden inmitten von Aktenbergen statt, nicht am wohlgeordneten Schreibtisch oder gar am Bildschirm. Nur wer zu den Quellen geht, den langen Marsch durch die Institutionen nicht scheut, gelangt an den Punkt, wo er sich und anderen das Licht anknipsen kann.