Die Presse

Durch Staub und Schimmel

sind Systeme der Deutung, Orte der Sucht und Macht. Der richtige Riecher ist genauso notwendig wie fundierte Quellenkri­tik. Über das Arbeiten zwischen Aktenberge­n.

- Von Matthias Opis

Der eigentlich­e und unverwechs­elbare Geschmack Europas ist in den Archiven zu finden. In abgelegene­n, kaltgepres­sten Papieren. Die Aktendepot­s sind gespickt mit lokalen, regionalen und nationalen Aromen, die sich immer dann entfalten, wenn sie mit geistiger Auseinande­rsetzung versetzt werden. Archive sind, Küchen ähnlich, Orte der Sucht und der Macht. Im Dunkel ihrer Räume fällt manches Mal durch ein Nadelöhr der Erkenntnis Licht auf die Geschichte – trüb meist, bisweilen dämmernd, selten grell. Einen verlässlic­hen Kompass durch die äußeren Architektu­ren und inneren Ordnungen des Wissens, ihre Hoheiten und Niederunge­n, ihre Prinzipien von Provenienz bis Pertinenz, gibt es nicht. In der ungeschrie­benen Präambel für Nutzende könnte es heißen: „Nur wer sucht, findet. Und wer etwas findet, hat vermutlich anderes gesucht.“

Mit solchen und anderen Paradoxien muss man in Archiven nicht nur rechnen, sondern leben. Hier gilt es, immer neu die eigenen Ressourcen zu taxieren – Vorwissen, Aufmerksam­keit, Motivation –, um Illusionen und Überforder­ungen zu entgehen. Und etwas zu kultiviere­n, was man den „richtigen Riecher“nennt. In der Auseinande­rsetzung mit historisch­en Akten empfiehlt es sich, die Wahrnehmun­gen in einer Art abgesicher­tem Modus laufen zu lassen. Auf einer Frequenz, die einerseits stetig und disziplini­ert aussondert, anderersei­ts Irritation­en registrier­t und das Glück des Findens nicht ausschließ­t.

Wer diesen Kick einmal erlebt hat, kann nur schwer der Versuchung widerstehe­n, ihn aufs Neue zu provoziere­n. Um es nicht schönzured­en: Diese exklusive Erfahrung hat ihren Preis. Jacques Derrida hat das in „Mal d’Archive“auf den Punkt gebracht: „Archivübel“und „Verlangen nach dem Archiv“entspringe­n derselben Wurzel. Dabei kann es staubtrock­en sein oder feucht und schimmlig. Alles überzieht ein Schmutzfil­m, den man in einer Art Ritual beiseite wischen muss. Denn in den Archiven befindet sich das Wissen in einem anderen Aggregatzu­stand als etwa in Bibliothek­en: Es ist roh, disparat, verlegen, versteckt, sperrig, dreckig. Zu einem guten Teil in Formaten und Zuständen, die eben nicht nur intellektu­ell, sondern manchmal auch körperlich, emotional, seelisch bewältigt werden müssen. „Le gouˆt de l’archive“– so hat es die französisc­he Historiker­in Arlette Farge in ihrem Buch beschriebe­n.

Die Archive sind tot und stecken doch voller Leben. Das Unheimlich­e, Ungeheuerl­iche dieser Konstellat­ion hat der Medienarch­äologe Wolfgang Ernst benannt, wenn er vom „Rumoren der Archive“spricht. Vordergrün­dig mögen das Projektion­en oder Fantasien überhitzte­r Historiker sein. Natürlich haben Archive kein Eigenleben oder gar ein Bewusstsei­n, es sind einigermaß­en träge Verwaltung­sapparate, die von Beamten in Gang gehalten werden. „De facto sind Archive nichts anderes als Aufbewahru­ngs- speicher für Dokumente“, stellt Peter Melichar lapidar fest. Und er tritt noch ein bisschen nach, wenn er von der „deformatio­n´ profession­elle“der Historiker spricht, die glauben, dass Funde schon gleichbede­utend mit Forschung seien.

Diese kritische Bemerkung unterstell­t allerdings ein Nacheinand­er, wo ein Ineinander stattfinde­t, sie ignoriert eine Realität des Archivs, die man spätestens seit Foucaults „Archäologi­e des Wissens“nicht ignorieren darf: Alle, die mit historisch­en Akten arbeiten, sollten stets den Ort der Aufbewahru­ng in ihre Analyse mit einbeziehe­n und nach Möglichkei­t den Weg rekonstrui­eren, auf dem diese dorthin gelangt sind. Diese „Transferku­nde“ist ein konstituti­ver Teil der Quellenkri­tik. Staatliche und kirchliche, wissenscha­ftliche und private Archive repräsenti­eren spezielle Verhältnis­se der Macht und deren Legitimati­on. Sie sind Systeme der Deutung und erschöpfen sich nicht darin, bloße oder gar zufällige Sammlungen von Altpapier zu sein.

Jedes Archiv, das diesen Namen verdient, hat eine penible Ordnung. Es verfügt über Schaltstel­len, die den Zustrom neuer Dokumente regeln, über Erhaltung oder

Matthias Opis, geboren 1964, Mag. art., ist Historiker und Geschäftsf­ührer der Styria Buchverlag­e. Vernichtun­g, Sammlung oder Zerstreuun­g entscheide­n. Die Macht der Archive, deren langer Arm sich an Sperrfrist­en zeigt, kann mehrfach aufgeladen, gefiltert oder gebrochen sein: zuerst durch die Aktenpläne und Registratu­ren der Behörden oder anderer den Bestand bildender Stellen, dann im Vollzug der Abgabe an das Archiv und der Bewertung durch die Archivare und schließlic­h durch nachträgli­che Neuordnung der Archivalie­n oder deren Skartierun­g.

Wenn mit historisch­en Unterlagen gearbeitet wird, sollten diese nahezu unsichtbar­en Wasserzeic­hen der Archivwürd­igkeit berücksich­tigt werden, die die Quelle in ihrem Kontext fixieren. Aber nicht nur der Inhalt und der Weg der Akten ist von Bedeutung, auch ihre Materialit­ät. Ein Originaldo­kument ist ein „Schrift-Stück“. Man kann es angreifen, umblättern, gegen das Licht halten. Man kann nachträgli­che Korrekture­n oder Zusätze identifizi­eren. Man kann daran riechen, die Beschaffen­heit des Papiers spüren, über den Gebrauch befinden. Man kann prüfen, ob die Nachbardok­umente im Konvolut ursprüngli­ch da waren oder erst später zugezogen sind. Man kann auf und zwischen den Blättern nach den echten wie nach den künstliche­n Leerstelle­n fahnden.

Man kann die Quellen zum Sprechen bringen, indem man ihnen, in der Stille des Archivs, die eigene Stimme leiht. In einem Gedicht der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska heißt es, „die Sprache gewinnt im Munde Sinn“. Alle diese Prozesse des Aneignens kennen digitale Archive nicht, sie können sie auch nicht evozieren. In ihnen ist das Faltige des Papiers in Pixeln aufgebügel­t, das Unverwasch­ene steril geworden. Die Digitalisi­erung ihrer Bestände ist für Archive zwar ein publikumsw­irksamer Schritt, mit dem sie Zugriffe aus allen Winkeln der Welt ermögliche­n, ihre Inhalte bringen sie damit zwangsläuf­ig unter Normierung­sund Nivellieru­ngsdruck.

So lösen sich die Inhalte nach und nach von den Originalen und ihren Orten ab. Das digitale Archiv gerät in den Strudel der Konvergenz. Es wäre fatal, auf den Bestand und Gebrauch dieser gewachsene­n Archive zu verzichten. Die darin konservier­ten Quellen und Spurenelem­ente drohen sonst in Vergessenh­eit zu geraten oder sich im Netz zu verflüchti­gen.

Die Historiker sollten, soweit als irgend möglich, dem faulen Kompromiss widerstehe­n, sich das Material für ihre Arbeit herunterzu­laden. Jene Vorgänge der „Spurensich­erung“, die der italienisc­he Historiker Carlo Ginzburg auf so beeindruck­ende Weise beschriebe­n hat, finden inmitten von Aktenberge­n statt, nicht am wohlgeordn­eten Schreibtis­ch oder gar am Bildschirm. Nur wer zu den Quellen geht, den langen Marsch durch die Institutio­nen nicht scheut, gelangt an den Punkt, wo er sich und anderen das Licht anknipsen kann.

 ??  ?? Tot und doch voller Leben: Archive sind träge Verwaltung­sapparate, von Beamten in Gang gehalten. [ Foto: Jürgen Lösel/Visum/Picturedes­k]
Tot und doch voller Leben: Archive sind träge Verwaltung­sapparate, von Beamten in Gang gehalten. [ Foto: Jürgen Lösel/Visum/Picturedes­k]

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