Hohe Kurse, billige Aktien
USA. Trotz der jüngsten Kursanstiege ist der amerikanische Aktienmarkt nicht mehr so hoch bewertet wie zu Jahresbeginn. Das reduziert die Gefahr eines Crashs. Doch Vorsicht: Wir bewegen uns immer noch in gefährlichem Fahrwasser.
Der US-Aktienmarkt ist nicht mehr so hoch bewertet, das reduziert die Gefahr eines Crashs.
New York. Es klingt paradox: Da kratzt der breite S&P 500 wieder einmal an einem neuen Rekordwert und trotzdem sind die Aktien des wohl weltwichtigsten Index derzeit deutlich billiger als noch zu Jahresbeginn. Nicht nur das: Die Bewertung ist im Durchschnitt in etwa auf dem Niveau wie nach dem Kursgemetzel Anfang Februar.
Gibt es ja gar nicht? Doch. Als beste Kennzahl, um festzustellen, wie teuer eine Aktie ist, dient immer noch das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Es dividiert den Preis je Aktie durch den erzielten Profit des Unternehmens. Je höher es ist, desto teurer das Papier. Aktuell liegt das KGV der 500 im S&P notierten Firmen laut Finanzdienstleister FactSet bei einem Wert von unter 22, zum Höchststand im Jänner lag es bei über 24 und nach der Korrektur im Februar ebenfalls bei knapp unter 22.
Die Erklärung ist einfach. Die Firmengewinne sind schneller gewachsen als die Aktienkurse. In jedem der vergangenen vier Quartale legten die Profite der US-Firmen zweistellig zu. Solch einen Anstieg der Profitabilität haben die USA seit Jahren nicht gesehen. Die Gründe sind vielfältig, und es droht die Gefahr einer Überhitzung. Aber Fakt ist: Die US-Wirtschaft boomt.
Gewinnwachstum erwartet
Haben am Ende jene Recht, die behaupten, dass eine jahrelange Rallye nicht notwendigerweise mit einem Crash oder einer Korrektur enden muss? Wenn ein Markt hoch bewertet ist, gibt es im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: Entweder rasseln die Kurse in den Keller oder die Börse wächst in ihre hohe Bewertung hinein, indem die Gewinne der Unternehmen schneller ansteigen als die Kurse.
Letzteres ist seit Jahresbeginn passiert, zumindest wenn man das klassische KGV als Grundlage heranzieht. Das könnte auch noch eine Weile so weitergehen, glaubt man den Analysten von FactSet. Sie erwarten, dass die Firmengewinne in den zwei ausstehenden Quartalen im Jahresvergleich um jeweils 20 Prozent ansteigen. Wenn die Kurse nicht völlig nach oben ausreißen, wird das KGV also noch weiter sinken. Die Berichtsaison läuft im September an.
Hier lohnt sich ein Blick auf das sogenannte vorausschauende Kurs-Gewinn-Verhältnis. Viele Experten bevorzugen es, weil es nicht die vergangenen, sondern die erwarteten Gewinne als Bewertungsgrundlage heranzieht. Und siehe da, der gleiche Befund: Im Jänner lag es bei über 18, aktuell beträgt es 16,6. Aktien sind nicht nur billiger als im Jänner, sofern die zu erwartenden Firmengewinne auch nur annähernd erzielt werden, werden sie sogar noch günstiger.
Das alles klingt zu gut, um wahr zu sein, und in gewisser Form ist es das auch. Denn selbst wenn die Bewertungen gesunken sind, sie sind immer noch extrem hoch. Beim herkömmlichen KGV liegt der Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre bei 17, beim vorausschauenden KGV bei 14. Da sind wir immer noch ein schönes Stück höher. Oder wie Goldman Sachs kürzlich in einer Studie festgehalten hat: Historisch betrachtet liegt das KGV im USAktienmarkt in den obersten zehn Prozent.
Leichtsinnigkeit ist also trotz einer besseren Bewertung fehl am Platz. Zwar kann es sein, dass die Fir- mengewinne weiter wachsen, und wenn man sich andere Märkte ansieht, sieht die Sache weniger dramatisch aus. In Europa beispielsweise sind Aktien deutlich niedriger bewertet, ebenso wie in Japan und in den Schwellenländern.
Risken nicht vernachlässigen
Doch sollte im aktuellen Umfeld kein Anleger vergessen, dass wir uns immer noch in äußerst gefährlichem Fahrwasser befinden. Wenn uns die Geschichte etwas gelehrt hat, dann dass hoch bewertete Papiere irgendwann wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt werden. Da genügt oftmals eine Kleinigkeit, und Gefahren brodeln genug, vom nach wie vor nicht gelösten Handelskrieg zwischen den USA und China über die Schuldenkrise in Italien bis hin zur Sorge um die Schwellenländer wegen des stärker werdenden Dollar.
Hier liegt auch ein anderes verstecktes Problem: Steigen die Firmengewinne tatsächlich weiter an und wachsen die US-Aktien in ihre hohe Bewertung hinein, wird die Notenbank Fed die Zinsen wohl weiter anheben. Das wiederum könnte dem Greenback weiter den Rücken stärken, was die Dollarschulden der Schwellenländer steigen lässt und eine Marktpanik auslösen könnte.
Irgendwann wird es zumindest eine überschaubare Korrektur geben müssen, wenn schon keinen handfesten Crash. Dann werden voraussichtlich jene Branchen deutlicher verlieren, die jetzt höher bewertet sind. Über dem Zehnjahresdurchschnitt beim Kurs-Gewinn-Verhältnis liegen etwa der Luxussektor, die Gesundheitsbranche und der Technologiesektor. Ziemlich im Schnitt bewegen sich Finanztitel und Einzelhändler, verhältnismäßig billig notieren Energie- und Industriewerte.
Kurzum: Das Paradoxon der billiger gewordenen Aktien beweist, dass der längste Bullenmarkt aller Zeiten dank der Rekordgewinne der US-Firmen noch andauern könnte. Doch lohnt sich ein Blick auf das Portfolio und die Branchengewichtung. Wer nicht viel Risiko eingehen will, könnte Kapital in unterbewertete Industrien stecken oder auch die Aktienquote reduzieren. Grund zur Panik besteht keiner. Grund zur Vorsicht auf jeden Fall.