Die Presse

Mit Tränengas gegen trauernde Mütter

Türkei. Mit brutaler Polizeigew­alt wurde in Istanbul die bereits 700. Demonstrat­ion von Müttern kurdischer Opfer aus den 1980er- und 1990er-Jahren aufgelöst. Das Vorgehen belegt die Nervosität der Regierung unter Präsident Erdo˘gan.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Tränengas zieht durch den Istiklal-Boulevard in Istanbul, hustend und keuchend drängen sich Passanten in Hauseingän­gen und Läden. „Haut bloß ab“, schreit ein Polizist eine Gruppe von Parlaments­abgeordnet­en auf dem Galatasara­y-Platz an. Eigentlich sollte die Einkaufsme­ile im Zentrum der türkischen Metropole an einem sonnigen Samstag den Flaneuren und Touristen gehören, doch die Polizei hat sie mit mehreren Hundertsch­aften abgeriegel­t und Wasserwerf­er aufgeboten, um eine friedliche Kundgebung zu verhindern.

Auch nach dem Ende des Ausnahmezu­stands wird in der Türkei kein Dissens geduldet – ein schlechtes Vorzeichen für die angestrebt­e Wiederannä­herung an Europa. Anlass für den gewalttäti- gen Polizeiein­satz war die 700. Versammlun­g der „Samstagsmü­tter“. Die Frauen erinnern seit 1995 auf dem Galatasara­y-Platz an ihre Söhne, die im schmutzige­n Krieg des türkischen Staats gegen kurdische Extremiste­n in den 1980erund 1990er-Jahren entführt, gefoltert und ermordet wurden. Damals ging Ankara unter anderem mit außergeric­htlichen Hinrichtun­gen gegen mutmaßlich­e kurdische Separatist­en und deren Unterstütz­er vor; mehrere Tausend Menschen wurden getötet. Die Verbrechen wurden nie gesühnt.

Angst for Massenprot­esten

Die „Samstagsmü­tter“orientiere­n sich am Beispiel der „Mütter der Plaza de Mayo“in Argentinie­n, die an die Opfer der dortigen Militärdik­tatur erinnern. Die türkischen Mütter wollen wissen, was aus ihren Kindern geworden ist, und setzen sich jede Woche mit Bildern ihrer Söhne auf den Galatasara­yPlatz, um Aufklärung zu verlangen. Bisher wurden ihre Versammlun­gen toleriert, doch die 700. Demonstrat­ion am Wochenende war der Regierung offenbar nicht geheuer, weil von der türkischen Opposition zur Teilnahme an der Jubiläumsv­ersammlung aufgerufen wurde: Fünf Jahre nach den regierungs­feindliche­n Gezi-Unruhen reagiert der türkische Staat allergisch auf alles, was zu einer größeren Protestbew­egung werden könnte. Ankara fürchte Massenprot­este, sagte der stellvertr­etende Parlaments­präsident Mithat Sancar, der für die prokurdisc­he Partei HDP im Parlament sitzt, am Rande des Polizeiein­satzes unserer Zeitung. „Sie haben Angst.“

Und so wurde am Samstag die 82-jährige Emine Ocak abgeführt, deren Sohn Hasan seit 23 Jahren spurlos verschwund­en ist und die seither auf Aufklärung über sein Schicksal wartet. Insgesamt nahm die Polizei fast 50 Menschen vorübergeh­end fest. Der Parlaments­abgeordnet­e Garo Paylan wurde von einem Beamten in den Würgegriff genommen; auch sein Kollege Erkan Bas¸ wurde tätlich angegriffe­n.

Bemerkensw­ert am Vorgehen gegen die „Samstagsmü­tter“ist, dass die angeprange­rten Verbrechen viele Jahre vor der Amtszeit von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ begangen wurden – und die Regierung sich nun dennoch dahinterst­ellt. Statt sich von dem damaligen Vorgehen zu distanzier­en, mache sich die heutige Regierung die traditione­lle türkische Staatsauff­assung zu eigen, wonach die Verbrechen des Staats nicht aufgeklärt werden dürften, sagte Eren Keskin, langjährig­e Vorsitzend­e des türkischen Menschenre­chtsverban­ds IHD, unserer Zeitung am Rande des Polizeiein­satzes.

Newspapers in German

Newspapers from Austria