Irrwitz auf Neapolitanisch
Kino. Ein Mord, ein Familiengeheimnis, eine Amour fou, ein Doppelgänger: Das ist etwas viel für einen Film. Ferzan Özpeteks „Das Geheimnis von Neapel“funktioniert trotzdem.
Ein erstaunlicher Film. Allein was in den ersten zehn Minuten passiert! Da erschießt eine Frau ihren Mann, lädt nach, bis keine Munition mehr in der Pistole ist, und ihre Tochter schaut zu. Nächste Einstellung: Adriana, von Beruf Gerichtsmedizinerin, wird bei einer Theateraufführung von einem wildfremden, ziemlich attraktiven Mann angesprochen, die beiden erleben innigen, tief erfüllenden (und sehr ausführlich gezeigten) Sex. In der Nacht darauf sieht Adriana den Geliebten in der Pathologie wieder – und erkennt ihn erst am Tattoo. Er liegt nämlich vor ihr auf dem Seziertisch und hat keine Augen mehr. Jemand hat sie ihm ausgestochen, bevor er ihn ermordet hat.
Man schüttelt den Kopf, denn eigentlich ist man hier nicht in einem billigen Krimi und auch nicht in einem Schmachtfetzen, das zeigt schon die erste Einstellung und erst recht die groteske Theaterszene, in der ein paar Laien – alles Männer – nach guter alter italienischer Tradition die Geburt Jesu darstellen und die ebenfalls männliche Maria arg stöhnend in den Wehen liegt. Trotzdem: Ein bisschen viel ist das schon, und es geht so weiter. Als hätte der türkisch-italienische Regisseur Ferzan Özpetek sich vorgenommen, die abgedroschensten Motive zu verwursten. Da gibt es ein düsteres Familiengeheimnis, jahrzehntelang streng gehütet. Eine Wahrsagerin, die etwas davon zu wissen scheint. Überall hängen bedeutungsschwangere Masken. Wohnungen werden zerwühlt auf der Suche nach verborgenen Informationen, mysteriöse Zahlen tauchen auf einem beschlagenen Spiegel auf – und als wäre das nicht genug, trifft die Gerichtsmedizinerin in einer dunklen Gasse Neapels ihren verstorbenen Geliebten wieder. Aber nein, es ist gar nicht Andrea, er hat nämlich kein Tattoo (Adriana reißt ihm dafür extra die Hose runter). Es ist sein Zwillingsbruder!
Bei der Geburt getrennte Zwillinge! Ist das jetzt eine Parodie?
Nein, ist es nicht, und dass dieser Film nicht abstürzt, bei all diesen irren Ingredienzien, dass man ihn doch gerne bis zu Ende sieht, immer neugierig, was Özpetek als nächstes einfallen wird, liegt an der Behutsamkeit, mit der dazwischen Geschichten erzählt werden. An den vielen Fragen, die aufgeworfen (aber nie beantwortet) werden. An der Träne im Auge des Mädchens. Am Kuss nach vollzogenem Akt. An den liebevoll-neckenden Bemerkungen von Onkel und Tante, die offenbar über das Liebesleben der Nichte genau informiert sind. Großartig: Die Familientreffen, laut und fröhlich, mit Hang zum Derben. Noch großartiger: die bezaubernde Giovanna Mezzogiorno, die so selbstbewusst-verloren dreinschauen kann wie einst Romy Schneider. Ihre Adriana ist eine Frau, die entschlossen ist, sich treiben zu lassen, zu nehmen, was das Leben so bietet. Auch wenn sie selbst an den eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen zweifelt. Insofern passt die Handlung – nie weiß man, was als nächstes passiert, dauernd werden falsche Fährten ausgelegt – zu ihrer Seelenlage.
Wäre der Film mit etwas Disziplin besser geworden? Mit weniger Bombast? Ohne all die Maskenspiele, Zwillingsgeschichten, in Gassen verschwindenden Schatten, ohne Mystery-Elemente? Kann sein. Kann aber auch sein, dass gerade der Wahnwitz den Charme und den versteckten Witz dieses Films ausmacht. In Italien hat sein Erfolg jedenfalls viele überrascht.